Der Sprung ins Jenseits
1.
Der Jeep holperte durch die Steinwüste. Unbarmherzig brannte die Sonne auf die Felsen, und flimmernd stieg die erhitzte Luft hinauf in den klaren, blauen Himmel. Ich hätte nie geglaubt, daß es in diesen Höhen so warm sein könnte. Vielleicht liegt es daran, dachte ich, daß wir der Sonne viel näher sind als anderswo.
Meinem Fahrer schien die Hitze nichts auszumachen. Mit unbewegtem Gesicht saß er hinter dem Steuer und versuchte, den größeren Steinen auszuweichen, die überall auf dem Weg lagen. Er trug ein braunes Hemd mit offenem Kragen, lange Kordhosen und schwere Bergschuhe. Neben ihm auf dem Sitz lag griffbereit ein altmodischer Revolver.
Nachts schliefen wir in einem Zelt, mit allen tagsüber entbehrlichen Kleidungsstücken zugedeckt. Denn so heiß die Tage waren, so kalt waren die Nächte. Zum Glück hatten wir die letzte Übernachtung im Zelt hinter uns, denn heute sollten wir unser Ziel erreichen.
Fern am Horizont verschwammen die Umrisse eines Gebirgszuges. Wir fuhren genau darauf zu. Noch drei oder vier Stunden vielleicht …
Ich hatte Yü Fang auf dem College kennengelernt. Er war damals fünfundzwanzig Jahre alt gewesen; ich war kaum achtzehn. Aus der Bekanntschaft wurde bald eine echte Freundschaft. Es gab viele Dinge, die der Tibeter und ich gemeinsam hatten. Insbesondere war es die Vergangenheit, die uns intensiv beschäftigte. Die Vergangenheit der Menschheit, die vom Dunkel der Zeit verdeckt wurde.
Mein Forschungsauftrag gab mir nun endlich die langersehnte Gelegenheit, ein Versprechen einzulösen. Ich wollte Yü Fang in seinem Bergkloster besuchen. Wie hätte ich jemals vergessen können, was er damals auf dem College zu mir sagte, nachdem wir stundenlang über die Unsterblichkeit der Seele debattiert hatten …
»Wir kennen nur einen winzigen Teil von uns, Alan. Es hat Jahrhunderte medizinischer Wissenschaft benötigt, die Geheimnisse des menschlichen Körpers zu enträtseln und die Funktionen der Organe zu bestimmen. Dabei ist man nicht einmal bis zu den Grenzbereichen der Seele vorgestoßen – sie blieb, was sie schon immer war: ein mysteriöser Begriff, abstrakt und unbegreiflich. In vieler Hinsicht ein arg mißbrauchter Begriff, Alan. Es gibt auf dieser Erde aber einige Menschen, denen die Seele und ihre Unvergänglichkeit kein Geheimnis ist. Eigentlich begegnet jeder früher oder später einmal einem Hinweis, aber er weiß ihn nicht zu deuten. Ich aber will es deuten können, wenn der Augenblick der Entscheidung gekommen ist. Mein Onkel leitet ein Kloster im Innern meines Landes. Es ist nur ein kleines Kloster, aber es steckt voller Geheimnisse. Wenn ich mein Studium beendet habe, werde ich in dieses Kloster gehen. Wirst du mich dort besuchen?«
Natürlich wollte ich, wenn ich auch mit Yüs Andeutungen nicht viel anfangen konnte. Aber so richtig stand mein Entschluß erst fest, als ich jenes unheimliche Erlebnis hatte, das mein Leben von Grund auf ändern sollte. Ich wußte, daß es nur einen Menschen gab, der mir auf meine Fragen eine Antwort geben konnte, aber Yü Fang war von mir durch eine Entfernung von mehr als siebentausend Kilometer Luftlinie getrennt, obwohl es Stunden gab, in denen ich seine Nähe zu spüren glaubte. Wie sollte ich jemals von Heidelberg nach Tibet gelangen?
Der Jeep machte einen Luftsprung, als er über eine Unebenheit holperte. Ich schrak zusammen und sah nach vorn. Die Konturen des Gebirges traten deutlicher hervor; schon waren Einzelheiten zu erkennen. Die Hitze hatte kaum nachgelassen.
Mein japanischer Fahrer drehte sich um und sah mich an.
»Eine Rast würde uns guttun, Mister Winter. Wir haben den schlechtesten Teil des Weges hinter uns, denke ich. Nur noch das Tal, dann erreichen wir die Berge. Zwanzig oder dreißig Kilometer. Bevor die Sonne untergeht, können Sie Ihren Freund begrüßen.«
Ich studierte wieder die Karte. Das Kloster war nicht eingezeichnet, aber Yüs Beschreibung war deutlich genug gewesen. Wir konnten es nicht verfehlen.
»Gut, aber nicht lange.«
Eine Erfrischungspause mitten in der Steinwüste schien mir nicht gerade verlockend. Aber ich mußte mir die Beine vertreten. Ich kletterte aus dem Fahrzeug und sagte:
»Kommen Sie nach, ich gehe ein Stück vor. Aber lassen Sie mich nicht zu weit laufen.«
»Es ist heiß, seien Sie vorsichtig.«
Ich nickte ihm beruhigend zu und schlenderte los. Der breite Hut bewahrte mich vor einem Sonnenstich, und sehnsüchtig dachte ich an die kalten Nächte zurück. Es war
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