Stefan Zweig - Gesammelte Werke
halbdunklen Gesicht der Studenten Intelligenz gepaart mit einer stillen Bescheidenheit und Höflichkeit. Eine gewisse Weichheit, eine linde Melancholie formt hier einen neuartigen und sehr persönlichen Gegensatz heraus zu dem schärferen und aktiveren Typus des Nordamerikaners. Was sich in dieser Mischung »zersetzt«, sind einzig die vehementen und darum gefährlichen Gegensätze. Diese systematische Auflösung der geschlossenen und vor allem zum Kampf geschlossenen nationalen oder rassischen Gruppen hat die Schaffung eines einheitlichen Nationalbewußtseins unendlich erleichtert, und es ist erstaunlich, wie vollkommen schon die zweite Generation sich nurmehr als Brasilianer empfindet. Immer sind es die Tatsachen in ihrer unableugbaren sichtbaren Kraft, welche die papiernen Theorien der Dogmatiker widerlegen. Darum bedeutet das Experiment Brasilien mit seiner völligen und bewußten Negierung aller Farb- und Rassenunterschiede durch seinen sichtbaren Erfolg den vielleicht wichtigsten Beitrag zur Erledigung eines Wahns, der mehr Unfrieden und Unheil über unsere Welt gebracht hat als jeder andere.
Und nun weiß man auch, warum sich einem die Seele so entlastend entspannt, kaum man dieses Land betritt. Erst vermeint man, diese lösende, beschwichtigende Wirkung sei nur Augenfreude, beglücktes In-sich-Aufnehmen jener einzigartigen Schönheit, die den Kommenden gleichsam mit weich gebreiteten Armen an sich zieht. Bald aber erkennt man, daß diese harmonische Disposition der Natur hier in die Lebenshaltung einer ganzen Nation übergegangen ist. Erst wie etwas Unglaubwürdiges und dann als unendliche Wohltat begrüßt einen, der eben der wahnwitzigen Überreiztheit Europas entflüchtet ist, die totale Abwesenheit jedweder Gehässigkeit im öffentlichen wie im privaten Leben. Jene fürchterliche Spannung, die nun schon seit einem Jahrzehnt an unseren Nerven zerrt, ist hier fast völlig ausgeschaltet; alle Gegensätze, selbst jene im Sozialen, haben hier bedeutend weniger Schärfe und vor allem keine vergiftete Spitze. Hier ist noch nicht die Politik mit all ihren Perfiditäten Angelpunkt des privaten Lebens, nicht Mittelpunkt alles Denkens und Fühlens. Es ist die erste und dann täglich glücklich erneute Überraschung, kaum man dieses Land betritt, in wie freundlicher und unfanatischer Form die Menschen innerhalb dieses riesigen Raums miteinander leben. Unwillkürlich atmet man auf, der Stickluft des Rassen- und Klassenhasses entkommen zu sein in dieser stilleren, humaneren Atmosphäre. Zweifellos, es ist hier mehr Lässigkeit in der Lebensführung. Die Menschen entwickeln unter dem unmerklich erschlaffenden Einfluß des Klimas weniger Stoßkraft, weniger Vehemenz, weniger Dynamik, also gerade die Eigenschaften, die man heutzutage in tragischer Überschätzung als die moralischen Werte eines Volkes anpreist; aber wir, die wir die fürchterlichen Folgen dieser psychischen Überspannungen, dieser Gier und Machtwut am eigenen Schicksal erfahren, genießen diese lindere und gelassenere Form des Lebens als eine Wohltat und ein Glück. Nichts liegt mir ferner als vortäuschen zu wollen, daß alles in Brasilien sich heute schon im Idealzustand befinde. Vieles ist erst im Anbeginn und Übergang. Noch liegt die Lebenshaltung eines Großteils der Bevölkerung weit unter der unseren. Noch sind die technischen, die industriellen Leistungen dieses Fünfzig-Millionen-Volks nur etwa mit denen eines europäischen Kleinstaats zu vergleichen. Noch ist die Verwaltungsmaschinerie nicht ganz eingespielt und zeitigt oft ärgerliche Stockungen. Noch reist man mit ein paar hundert Meilen ins Innere gleichzeitig ins Primitive um ein Jahrhundert zurück. Wer neu in das Land kommt, wird sich im täglichen Leben an kleine Unpünktlichkeiten und Unzuverlässigkeiten, an eine gewisse Laxheit erst anpassen müssen, und gewisse Reisende, die nur vom Hotel und vom Auto aus die Welt sehen, können sich noch den Luxus leisten, mit dem hochmütigen Gefühl zivilisatorischer Überlegenheit zurückzureisen und vieles in Brasilien rückständig oder unzulänglich zu finden. Aber die Ereignisse der letzten Jahre haben unsere Meinung über den Wert der Worte »Zivilisation« und »Kultur« wesentlich geändert. Wir sind nicht mehr willens, sie kurzerhand dem Begriff »Organisation« und »Komfort« gleichzustellen. Nichts hat diesen verhängnisvollen Irrtum mehr gefördert als die Statistik, die als mechanische Wissenschaft berechnet, wieviel in einem Lande
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