Stefan Zweig - Gesammelte Werke
setzt auch dann noch nur unzulänglich ein. Während sich der Umschlagrhythmus von Ware und Verkehr in den europäischen und nordamerikanischen Staaten von Jahr zu Jahr verzehnfacht, verhundertfacht, vertausendfacht, wehrt sich in Brasilien die Erde, Kohle herzugeben, stemmen sich die Berge und krümmen sich die Flüsse, als wollten sie sich weigern gegen das neue Jahrhundert. Bald zeigt sich das Resultat: von Jahrfünft zu Jahrfünft bleibt Brasilien immer mehr zurück in der modernen Entwicklung, und besonders der Norden mit seinen schlechten Verkehrsmitteln gerät in einen später kaum mehr aufzuhaltenden Verfall. Zu einer Zeit, da Schienenstränge in dreifachem und vierfachem Gürtel schon die Vereinigten Staaten von Osten nach Westen, von Süden nach Norden verbinden, sind hier auf einem gleich großen Terrain neun Zehntel des Landes Meilen und Meilen weit von jeder Schienenspur, und während den Mississippi und den Hudson und den San Lorenzo ständig die neuen Dampfboote auf- und niederfahren, erblickt man nur selten am Amazonas und São Francisco den Rauch eines Schornsteins. So kommt es, daß zu einer Zeit, da in Europa und Nordamerika die Kohlenminen und Eisenwerke, die Fabriken und Verkaufszentren, die Städte und die Häfen mit immer geringerem Zeitverlust zusammenarbeiten und sich die Potenz und Schlagkraft der Massenproduktion von Jahr zu Jahr übersteigert, Brasilien bis tief ins neunzehnte Jahrhundert bei den Methoden des achtzehnten, des siebzehnten und sechzehnten ohnmächtig stehenbleibt, immer nur dieselben Rohstoffe liefernd und dadurch im Absatz seiner Fertigwaren der Willkür des Welthandels wehrlos ausgeliefert.
So fällt und verfällt die Handelsbilanz; Brasilien tritt als dominierender Faktor aus der vordersten Reihe Amerikas in die zweite oder dritte zurück, und sein Wirtschaftsbild entbehrt zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts nicht einer gewissen Perversität. Denn gerade das Land, das mehr Eisen besitzt als vielleicht irgendein anderes der Erde, muß jede Maschine, jedes Werkzeug vom Ausland importieren. Obwohl es Baumwolle auf seinem Boden in unbeschränkter Fülle erzeugt, muß es den gewebten, den bedruckten Stoff aus England einführen. Obwohl seine Waldbestände unermeßlich und ungefällt sich dehnen, muß es Papier von auswärts kaufen und so jedes Objekt, das nicht mit unorganisierter, altväterlicher Handarbeit erzeugt werden kann. Wie immer in Brasilien würden großzügige Investitionen, die den Betrieb umorganisierten, hier Rettung bringen. Aber Brasilien fehlt es seit der Stockung des Goldes an Kapital, und so werden seine Eisenbahnen, seine ersten Fabriken, seine wenigen großzügigen Unternehmungen ausschließlich von englischen und französischen und belgischen Compagnien eingerichtet und das neue Kaiserreich als Kolonie anonymer Gruppen aller Weltausbeutung ausgeliefert. In einer Zeit, wo der Rhythmus der Bewegung, die lebendige Durchpulsung des Raums mit schöpferischen Energien für die volkswirtschaftliche Entwicklung eines Landes entscheidend wird, ist Brasilien, das noch mit den alten Methoden und mit den alten Umsatzlangsamkeiten arbeitet, von einem vollkommenen Marasmus bedroht. Wieder einmal ist seine Wirtschaft bei einem Tiefpunkt angelangt.
Aber es gehört zur Besonderheit seiner Entwicklung, daß dieses Land der unbegrenzten Möglichkeiten jede seiner Krisen immer wieder durch eine plötzliche Umstellung überwindet, indem es, sobald sein Hauptexportartikel versagt, sich einen neuen und noch ergiebigeren findet. Wie das siebzehnte Jahrhundert durch den Zucker, das achtzehnte durch das Gold und die Diamanten, so zeitigt auch das neunzehnte ein solches Wunder des unvermuteten Aufstiegs durch den Kaffee. Nach dem Zyklus des Zuckers, des weißen Goldes, dem Zyklus des wirklichen Goldes setzt mit dem Kaffee der Zyklus des braunen Goldes ein, der dann noch für kurze Zeit durch den Zyklus des flüssigen Goldes, des Gummis, abgelöst wird, und es ist ein Triumphzug ohnegleichen. Denn mit dem Kaffee erschafft sich während des ganzen neunzehnten Jahrhunderts und bis in das zwanzigste hinein Brasilien ein absolutes Weltmonopol: wieder sind es die alten und so typischen Faktoren, die Ergiebigkeit der Erde, die Leichtigkeit der Anpflanzung, die Primitivität des Produktionsprozesses, die diesen neuen Artikel gerade Brasilen besonders gemäß machen. Die Kaffeebohne kann nicht mit Maschinen gepflanzt, nicht von Maschinen geerntet werden. Hier allein leistet der Sklave
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