Stefan Zweig - Gesammelte Werke
halsbrecherisch oft und selten sauber, denn zwischen den Hütten treibt sich das sonderlichste Getier herum, Ziegen und hagere Katzen, räudige Hunde und knochige Hühner, das Spülwasser rinnt und tropft trüb ohne Unterlaß den Felsen hinab – fünf Minuten von einem Luxusstrand oder einem Boulevard meint man inmitten eines polynesischen Urwalddorfes oder in einem afrikanischen Kral zu sein. Man hat das Summum an Primitivität gesehen, die niederste Form des Hausens und Lebens, eine Form, die man in Europa oder Nordamerika kaum mehr für glaubhaft gehalten. Aber sonderbar – der Anblick hat nichts Bedrückendes, nichts Abstoßendes, nichts Aufreizendes, nichts Beschämendes. Denn diese Neger fühlen sich hier tausendmal glücklicher als unser Proletariat in seinen Mietskasernen. Es ist ihr eigenes Haus, sie können dort tun und lassen, was ihnen beliebt, abends hört man sie singen und lachen – sie sind hier ihre Herren. Kommt ein Grundbesitzer oder eine Kommission, die sie vertreibt, um hier eine Straße oder ein modernes Wohnviertel anzulegen, so ziehen sie gleichmütig auf einen andern Berg. Nichts hindert sie, das dünne Haus gleichsam auf ihrem Rücken mitzunehmen. Und dann: weil sie hoch auf den Bergen liegen, an den unzugänglichsten Kanten und Ecken, haben diese Favellas den schönsten Blick, den man sich denken kann, denselben Blick wie die kostbarsten Luxusvillen, und es ist dieselbe üppige Natur, die hier ihr winzigstes Stückchen Grund mit Palmen überhöht und mit Bananen großmütig speist, jene wunderbare Natur von Rio, die es der Seele verbietet, schwermütig und unglücklich zu sein, weil sie unablässig tröstet mit ihrer weichen, beschwichtigenden Hand. Wie oft bin ich diese glitschigen, lehmigen Stufen hinaufgeklettert in diese Negerdörfer, und nie habe ich hier einen unfreundlichen, einen unfreudigen Menschen gefunden. Ein sonderbares, ein unvergleichliches Stück Rio wird mit diesen favelas verschwinden, und ich kann mir die Hügel von Gêvea, den alten Morro kaum denken ohne diese kleinen, dem Felsen kühn aufgeklebten Dörfer, die mit ihrer Primitivität daran erinnern, wie vieles an Zuviel wir haben und fordern, und daß selbst im Minimum der Existenz wie in einem Tautropfen sich die ganze Vielfalt des Lebens zusammenfassen kann.
Auch eine andere Kuriosität von Rio wird bald dem zivilisatorischen Ehrgeiz und vielleicht auch der Moral zum Opfer fallen – wie in so vielen Städten Europas, in Hamburg, in Marseille: der eine Straßenzug, von dem man nicht spricht, die Mangue, der große Liebesmarkt, das yoshivara von Rio. Daß doch auch hier noch in letzter Stunde ein Maler käme, um diese Straßen festzuhalten, wenn sie abends unter den Sternen mit grünen, roten, gelben, weißen Lichtern und wehenden, fliehenden Schatten schimmern, ein phantastischer, ein orientalischer Anblick, wie ich ihn kaum ähnlich im Leben gesehen, und überdies noch geheimnisvoll durch die aneinandergeketteten Geschicke! Fenster an Fenster oder vielmehr Tür an Tür stehen und warten hier wie exotische Tiere hinter den Gitterstäben tausend oder sogar fünfzehnhundert Frauen aller Rassen und Farben, jeden Alters und jeder Herkunft, senegalische schwarze Negerinnen neben Französinnen, die ihre Altersrunzeln kaum mehr überschminken können, zarte Inderinnen und feiste Kroatinnen auf die Kunden, die in unaufhörlichem Zug vor diesen Fenstern vorüberspähen, um die Ware zu prüfen. Hinter ihnen schimmert in bunten Farben die Ampel und erhellt mit magischen Reflexen den rückwärtigen Raum, in dem sich das hellere Bett aus den Schatten hebt, ein rembrandtisches clair-obscur , das diesen täglichen und überdies erschreckend billigen Betrieb beinahe mystisch macht. Aber das Überraschendste, das zugleich Brasilianische bei diesem Markte ist die Stille, die Gelassenheit, die ruhige Disziplin; während in den Gassen von Marseille, von Toulon in solchen Straßen alles dröhnt von Lachen, Geschrei, Hochrufen und tollgewordenen Grammophonen, während die betrunkenen Gäste dort wild und gefährlich durch die Gassen gröhlen, bleibt hier alles bildhaft und leise. Ohne sich zu schämen, mit südländisch-ehrlicher Unbefangenheit wandern die jungen Leute an diesen Türen vorbei, um manchmal wie ein rascher Strahl Licht in ihren weißen Anzügen dort zu verschwinden. Und über all diesem stillen, heimlichen Geschehen steht der Himmel mit seinen Sternen; auch dieser abseitige Winkel, der sich in anderen Städten, seines
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