Stefan Zweig - Gesammelte Werke
Luxusauto fahren oder in der Trambahn mit den Arbeitern; nichts befeindet sich, und man findet da und dort, bei dem Stiefelputzer und dem Aristokraten die gleiche Courtoisie, die hier alle Schichten einverständlich verbindet. Was sonst sich feindselig oder mißtrauisch abtrennt, spielt hier alles frei durcheinander. Wie viele Rassen allein schon auf der Straße, der schwarze Senegalneger im zerrissenen Rock und der Europäer in seinem schnittigen Anzug, die Indios mit ihrem schweren Blick und schwarzglatten Haar und dazwischen in hundert und tausend Schattierungen die Mischungen aller Völker und Nationen; aber all dies nicht wie in New York und anderen Städten in Viertel abgeteilt, hie schwarz, hie weiß, hie gemischt, hie Italiener, dort Brasilianer, dort Japaner. Sondern all dies wogt heiter durcheinander, und die Straße wird durch die Fülle der Physiognomien zu einem ständig wechselnden Bild. Welche Kunst hier, die Spannungen zu lösen, ohne sie darum zu zerstören! Die Vielfalt zu bewahren, ohne sie ordnen zu wollen und gewaltsam zu organisieren! Möge sie dieser Stadt bewahrt bleiben! Möge sich nicht dem geometrischen Wahn der schnurgeraden Avenuen, der klaren Überschneidungen, diesem gräßlichen Schachbrettideal der modernen Geschwindigkeitstädte verfallen, die dem Ebenmaß der Linie, der Monotonisierung der Formen gerade das aufopfern, was immer das Unvergleichliche jeder Stadt ist: ihre Überraschungen, ihre Eigenwilligkeiten und Winkligkeiten und vor allem ihre Kontraste – die Kontraste von alt und neu, von Stadt und Natur, von reich und arm, von Arbeit und Schlenderei, die man hier in ihrer einzigartigen harmonischen Gelöstheit genießt.
Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind
E inige der einzigartigen Dinge, die Rio so farbig und pittoresk machen, sind freilich schon bedroht. Vor allem die favelas , die Negerdörfer mitten in der Stadt, wird man sie in ein paar Jahren noch sehen? Die Brasilianer sprechen nicht gern von ihnen, und im sozialen, im hygienischen Sinne sind sie sicherlich eine Rückständigkeit inmitten einer Stadt, die von Sauberkeit blinkt und durch einen vorbildlichen hygienischen Dienst das vormals endemische gelbe Fieber in zwei Jahrzehnten gänzlich ausgerottet hat. Aber sie sind ein besonderer Farbton inmitten dieses kaleidoskopischen Bildes, und wenigstens eines dieser Sternchen im Mosaik sollte dem Stadtbild erhalten bleiben, weil es ein Stück menschlicher Natur darstellt inmitten der Zivilisation.
Diese favelas haben eine besondere Geschichte. Den Negern, die zum Teil von ganz kleinem Einkommen leben, war es zu teuer, in Mietswohnungen innerhalb der Stadt zu wohnen; von außerhalb wiederum täglich an den Dienstplatz zu kommen, bedeutet eine zweimalige Reise und kostet Fahrgeld. So suchten sie sich auf den Hügeln und Felsen inmitten der Stadt, zu denen keine Wege hinaufführen, irgendeine Stelle und bauten sich, ohne nach Grundbesitz zu fragen, ein Haus oder vielmehr eine Hütte. Für eine solche mocambo benötigt man keinen Architekten. Man nimmt ein paar Dutzend Bambusstäbe und schlägt sie in die Erde. Man füllt den Zwischenraum zwischen den Stäben mit Lehm, den man sich aufgräbt und hartschlägt. Man stampft den Fußboden glatt. Man deckt das Dach mit einer Art Binsen zu. Und die favela ist fertig. Sie braucht keine Fenstergläser, es tun es ein paar Zinkplatten, irgendwo im Hafen aufgelesen. Ein Vorhang, aus einem alten Sack gefertigt, verdeckt den Eingang, der allenfalls noch durch Latten aus alten Kisten verschönt wird, und es ist dieselbe Hütte, wie sie vor hunderten Jahren ihr Urahn im afrikanischen Kral gebaut. An Luxus ist ihre Ausstattung nicht verschwenderisch reich – ein selbstgezimmerter Tisch, ein Bett, ein paar Sessel und ein paar farbige Bilder aus alten Zeitschriften an den Wänden – und auch sonst entbehren sie mancher modernen Annehmlichkeit. So muß das Wasser den steilen, in den Lehm oder Felsen heraufgestuften Weg unten vom Brunnen heraufgeschleppt werden; ununterbrochen wie in einem Paternosteraufzug sieht man Frauen und Kinder das kostbare Naß auf dem Kopf herauftragen und zwar nicht in Krügen – das wär eine zu kostspielige Anschaffung – sondern in alten Benzinbehältern. Auch das elektrische Licht reicht nicht bis in diese Hütten, abends blinken und zwinkern sie nur mit kleinen Petroleumlichtern zwischen dem Gebüsch. Und immer wieder der steile Weg hinauf über Stufen und Steine und Stiegen,
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