Stefan Zweig - Gesammelte Werke
systematisch einsetzen und Minas Gerais seine Industriekraft entfalten, so ist trotz aller Vorberechnung nicht abzusehen, zu welcher Größe sie sich entwickeln kann: einer nächsten Generation wird jedenfalls dieser Name Belo Horizonte so vertraut sein wie der von Rio oder Sêo Paulo.
Von Belo Horizonte nach Ouro Preto, von der neuen zur alten Hauptstadt, heißt aus der Zukunft in die Vergangenheit reisen, aus dem Morgen wieder zurück in das Gestern. Die Straße schon, kaum man den guten Asphalt der Hauptstadt verläßt, beginnt einen sehr eindringlich an das Gestern zu mahnen, denn die rote, lehmige Erde wird bei Hitze zu einem staubigen Qualm, nach einem Regenguß zu einem zähen Brei; wie einstens ist es noch immer nicht ganz bequem, in die Goldwelt zu gelangen. Von dem hellen freundlichen Hochplateau von Belo Horizonte das Land weit überschauend, hatte man gemeint, hinter der schroffen Bergkette erstrecke sich ein weites, flaches, tropisches Land. Aber die Straße führt in unermüdlichen Biegungen und Wendungen, steigend und fallend, immer wieder durch Bergland; an manchen Stellen klimmt sie tausend und sogar vierzehnhundert Meter hoch zu ragenden Gipfeln, und dann überblickt man ein Panorama, das in seiner Großartigkeit nur der Schweiz vergleichbar ist: Hügel an Hügel in erstarrten riesigen Wellen, ein anderer grüner, unendlicher Ozean aus Stein und Wald. Stark und duftend fährt der Wind über diese Höhen dahin, und sein stilles Sausen ist der einzige Ton in dieser Einsamkeit. Kein Wagen auf dem Wege, kaum eine Hütte auf stundenlanger Fahrt, kein bestelltes Feld, kein Glockenruf, kein Vogelsang – immer nur der Urton des Anfangs in dieser leeren, unbeseelten Welt, die den Menschen noch nicht zu kennen scheint. Aber dennoch liegt in dieser einsamen, wildschönen Landschaft etwas, was die Phantasie merkwürdig irritiert; man spürt, daß hier in Erde und Stein und Fluß ein besonderes Geheimnis sich verbirgt. Ein merkwürdiges Leuchten geht von den Bruchstellen der Berge aus, ein Funkeln von Erz und Metall. Selbst ohne daß man es von Buch und Bildung wüßte, ahnt man an dem schillernden Glanz, daß diese Berge Erz in sich schließen, einen noch ungehobenen und kaum errechenbaren Reichtum an Metall. Denn schon die Straße selbst verrät ihn mit ihrem pulvrigen Lehm, der von Eisen so dunkelrot gesättigt ist, daß bereits nach kurzer Fahrt das Automobil purpurn leuchtet wie der feurige Wagen Elias’. Und es verrät ihn der Fluß, der Rio das Velhas, der schwer und satt den glitzernden Sand mit sich hinschwemmt; funkelnde Unterwelt voll kostbarer Quarze ist hier verborgen, und Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte wird es dauern, ehe sie sich aufschließt der menschlichen Ungeduld. Aber noch stört kein Spatenschlag, kein Maschinenrattern die Einsamkeit; hinauf, hinab geht der Weg durch das steinerne Gewinde, hinauf, hinab, und schon ist man derart gewöhnt an diese großartige Unbeseeltheit, daß man menschliche Siedlung erst wieder im Talland erwartet: hier oben, so meint man, lebt niemand und hat niemals ein Mensch gewohnt.
Da plötzlich an einer Kurve leuchtet etwas auf wie ein weißer Doppelblitz: die beiden hellen Türme einer schlanken schönen Kirche. Und man erschrickt fast vor diesem jähen Einbruch menschlicher Vollendung in diese harte strenge Einsamkeit. Aber da, am Nachbarhügel, ebenso leicht und schlank und weiß, eine zweite, eine dritte. Es sind die elf Kirchen, die die einstige mächtige Stadt Vila Rica beschirmten und nun das kleine schlafende Städtchen Ouro Preto. Sie bieten zuerst einen unwirklichen Eindruck, diese ragenden Kirchen, die frei und stolz ihre Schönheit in den Himmel heben, während unter ihnen etwas klein und ungewiß liegt wie ein vergessener oder weggeworfener Überrest – diese wie vom Vogel Greif des Märchens hierhergetragene Stadt, die plötzlich müde geworden war und, ausgeblutet von ihren Menschen, sich nicht mehr aus ihrer Erschöpfung aufrichten konnte. Nichts hat sich hier geändert, während in Rio de Janeiro, in São Paulo man jede Stunde ein neues Haus baut und sich sonst überall die Dimensionen mit tropischer Wachstumskraft ins Phantastische vermehren; auf dem Hauptplatz mit dem einstigen Palast des Gouverneurs, der über hunderttausend Menschen gebot, schatten ein paar Leute vorüber und verlieren sich in den engen holprigen Nebengassen, Maulesel traben genau wie zur Kolonialzeit in langen Zügen, einer hinter dem andern mit ihrer Last von Holz,
Weitere Kostenlose Bücher