Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten
Prolog
Kein Zweifel – seine Beute war kurz vor ihm hier gewesen. Der Jäger schloss halb die Augen und spürte der Ausdünstung nach, die sich wie eine klebrige Substanz auf seine Sinne legte – sie war so stark, dass er ihr blind folgen konnte.
Vor ihm lag eine enge Straße, die entlang eines Kanals verlief, von diesem nur durch ein rostiges Geländer getrennt. Eine Gruppe lachender Menschen kam ihm entgegen. In seiner Zwischenwelt nahm er ihre Stimmen nur gedämpft wahr, und sie interessierten ihn auch nicht; ihn lockte nur seine Beute. Üblicherweise ging er einfach durch Menschen hindurch, als wären sie Schatten. Sie hinterließen – wenn überhaupt – kaum mehr als ein Gefühl von lästiger Kühle auf seiner Haut, als dränge er sich durch die schmutzigen Kanäle, von denen diese Stadt durchzogen war. Dieses Mal wollte er sich jedoch nicht von der Beute ablenken lassen. Es war zu wichtig, ihr Odem aus Hass und Wut zu intensiv. Er wich den Menschen aus, bis sein Ärmel leicht an der abblätternden Hausmauer des verfallenen Palazzos zu seiner Rechten streifte und hindurchglitt. Ein alter Mann humpelte unvermittelt aus einem Haustor und lief mitten durch den Jäger hindurch. Er fuhr sich über das Gesicht, als wollte er die Reste von einem Spinnennetz wegwischen, und ging kopfschüttelnd und vor sich hinmurmelnd weiter.
Der Jäger beachtete ihn nicht. Er bog in eine Straße ein, folgte dieser einige Schritte und trat dann durch einen Torbogen hindurch. Seine Schritte waren selbst in seiner Zwischenwelt völlig lautlos, als er in die Mitte des düsteren Hofes trat und ausdruckslos auf den Körper zu seinen Füßen blickte.
Vor ihm lag der vom Todeskampf gekrümmte Körper einer Frau. Ein schmaler Sonnenstreifen beleuchtete die angstverzerrte Maske des Todes. Dicke Strähnen blutverklebten Haares lagen über ihrer Stirn und über ihrem Mund. Sie war nicht mehr dazu gekommen, zu schreien. Ihre Kehle war zerrissen, zerfetzt wie ihr Kleid. Darunter ihr Leib aufgeschlitzt, als hätte jemand mit scharfen Krallen nach ihren Eingeweiden gesucht. Ihr Blut war weit über den Boden gespritzt, klebte sogar an den Wänden des alten Palazzos und vermischte sich mit den abblätternden Farben einer alten Malerei.
Die Beute war ganz nahe, nur wenige Augenblicke und er würde sie stellen.
Er kehrte der Toten und dem besudelten Hof den Rücken. Hinter sich hörte er das Knarren einer Tür und gleich darauf den erstickten Aufschrei einer Frau, der in ein hysterisches Kreischen überging. Aber da war er schon längst wieder in der engen Straße. Die Spur führte über eine schmale Steinbrücke. Danach wurde der Odem seltsam verschwommen, als hätte seine Beute verschiedene Richtungen abgesucht. Der Jäger blieb stehen und schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Etwas war anders, die Stärke der Ausdünstung schwankte stark. Das war ungewöhnlich.
Das Gekreische hinter ihm erstarb, er hörte verschiedene Stimmen von Menschen, Rufe, entsetzte Schreie. Zwei Männer rannten durch ihn hindurch, ohne ihn auch nur wahrzunehmen.
Er drehte sich nach rechts und ging weiter. Er hatte die Spur wieder aufgenommen.
***
Gabriella spürte die Bedrohung schon lange, bevor sie körperlich von ihr heimgesucht wurde. Dabei hatte der Tag selbst nichts Beängstigendes an sich. Die Sonne hatte die Nebelschwaden aus den engen Straßen und Kanälen gesogen, und man konnte von manchen Brücken bis zum Canal Grande sehen. Die Stimmen der Stadt waren nun deutlich zu vernehmen, nicht mehr gedämpft, wie noch eine Stunde davor, und Touristengruppen drängten sich schnatternd und fotografierend durch die Straßen. Gabriella schüttelte die Beklemmung von sich ab.
Ihre Mutter war vor der Auslage eines Schuhgeschäfts stehen geblieben und studierte nun schon seit gut zehn Minuten die Schuhreihen. Das war nichts Neues. Camilla Brabante liebte Schuhe und verharrte vor jeder Auslage mindestens ebenso lange wie Gabriella vor Geschäften, die Stofftiere, Puppen und Masken anboten. Manchmal gingen sie sogar hinein, und ihre Mutter probierte einige Paare, ließ sich auch welche für Gabriella zeigen, und dann bedankten sie sich und verließen das Geschäft wieder. Gabriella fragte sich oft, weshalb diese unpraktischen Schuhe mit den hohen Absätzen einen derartigen Reiz auf ihre Mutter ausübten. Sie stöckelte daheim spaßeshalber auch ganz gerne vor dem Spiegel darin herum, immer in Gefahr, zu stolpern und sich ein Bein zu brechen, aber
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