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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Mutter.) Aber Ludwig XVI. – der Dauphin ist inzwischen zwar schon König geworden, doch nach fünf Jahren noch immer kein Ehemann – kann sich, seinem schwankenden Charakter gemäß, zu keiner energischen Tat entschließen. Er zaudert und zögert, versucht und versucht, und diese gräßliche, widerliche, lächerliche Situation des ewigen Versuchens und ewigen Versagens zieht sich zur Schmach Marie Antoinettes, zum Hohn des ganzen Hofes, zur Wut Maria Theresias, zur Erniedrigung Ludwigs XVI. noch zwei weitere Jahre hin, im ganzen also sieben entsetzliche Jahre, bis schließlich Kaiser Joseph eigens nach Paris reist, um seinen nicht sehr mutigen Schwager zur Operation zu überreden. Dann erst gelingt es diesem traurigen Cäsar der Liebe, den Rubikon glücklich zu überschreiten. Aber das seelische Reich, das er endlich erobert, ist schon verwüstet durch diese sieben Jahre lächerlichen Kampfes, durch diese zweitausend Nächte, in denen Marie Antoinette als Frau und Gattin die äußerste Erniedrigung ihres Geschlechts erlitten hat.
    Wäre es nicht zu vermeiden gewesen (fragt vielleicht manches empfindsame Gemüt), an dies heikle und heiligste Geheimnis des Alkovens zu rühren? Hätte es nicht genügt, die Tatsache des königlichen Versagens bis zur Unkenntlichkeit zu verschatten, zaghaft an der Tragödie des Ehebetts vorbeizuschleichen, bestenfalls verblümt vom »fehlenden Glück der Mütterlichkeit« zu munkeln? Ist wirklich die Betonung solch intimster Einzelheiten unentbehrlich für eine charakterologische Darstellung? Jawohl, sie ist unentbehrlich, denn alle die Spannungen, Abhängigkeiten, Hörigkeiten und Feindseligkeiten, die sich allmählich zwischen dem König und der Königin, den Thronanwärtern und dem Hof herausbilden und weit ins Weltgeschichtliche hinüberreichen, sie bleiben unverständlich, wenn man nicht offenherzig an ihren eigentlichen Ursprung herangeht. Mehr weltgeschichtliche Folgeerscheinungen, als man gemeinhin zuzugeben gewillt ist, haben im Alkoven und hinter den Baldachinen der Königsbetten ihren Anfang genommen; kaum in irgendeinem andern Falle aber liegt die logische Kette zwischen privatestem Anlaß und politisch-welthistorischer Auswirkung so eindeutig offen wie bei dieser intimen Tragikomödie, und jede charakterologische Darstellung bleibt unehrlich, die ein Geschehnis in den Schatten drückt, das Marie Antoinette selbst den »article essentiel«, den Hauptpunkt ihrer Sorgen und Erwartungen, genannt hat. Und dann: Deckt man wirklich ein Geheimnis auf, wenn man frei und ehrlich von der langjährigen ehelichen Unfähigkeit Ludwigs XVI. spricht? Durchaus nicht. Nur das neunzehnte Jahrhundert mit seiner krankhaften moralischen Sexualprüderie hat ein Nolimetangere aus jeder unbefangenen Erörterung physiologischer Verhältnisse gemacht. Im achtzehnten Jahrhundert aber, wie in allen früheren, galt Ehefähigkeit oder Eheunfähigkeit eines Königs, Fruchtbarkeit oder Unfruchtbarkeit einer Königin nicht als private, sondern als politische und Staatsangelegenheit, weil sie die »Erbfolge« und damit das Schicksal des ganzen Landes entschied; das Bett gehörte so offenkundig mit zum menschlichen Dasein wie das Taufbecken oder der Sarg. In dem Briefwechsel Maria Theresias und Marie Antoinettes, der immerhin durch die Hand des Staatsarchivars und des Kopisten ging, sprachen damals eine Kaiserin von Österreich und eine Königin von Frankreich in voller Freiheit über alle Einzelheiten und Mißgeschicke dieses sonderbaren Ehestandes. Beredt schildert Maria Theresia der Tochter die Vorteile des gemeinsamen Bettes und gibt kleine weibliche Winke, jede Gelegenheit zu intimer Vereinigung geschickt auszunutzen; die Tochter wiederum berichtet das Eintreffen oder Nichteintreffen des monatlichen Unwohlseins, das Versagen des Gatten, jedes »un petit mieux«, und schließlich triumphierend die Schwangerschaft. Einmal wird sogar der Komponist der Iphigenie, wird sogar Gluck, weil er früher abreist als der Kurier, mit der Übermittlung solcher intimer Neuigkeit betraut: im achtzehnten Jahrhundert nimmt man natürliche Dinge noch völlig natürlich.
    Aber wäre es nur die Mutter allein, die damals um jenes heimliche Versagen weiß! In Wirklichkeit schwatzen alle Kammerfrauen davon, alle Hofdamen, Kavaliere und Offiziere; die Diener wissen es und die Wäscherinnen am Hofe von Versailles, sogar an seinem eigenen Tisch muß der König manchen derben Scherz erdulden. Außerdem befassen sich, da die

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