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Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Stefan Zweig - Gesammelte Werke

Titel: Stefan Zweig - Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Schrei, als ihre Verwandte, die Herzogin von Chartres, zuerst ein totes Kind zur Welt bringt. Da schreibt sie an ihre Mutter: »So furchtbar das auch sein muß, ich wollte, ich hielte wenigstens so weit.« Lieber ein totes Kind, aber nur ein Kind! Nur endlich aus diesem zerstörenden, unwürdigen Zustand heraus, nur endlich wirkliche normale Frau ihres Mannes sein und nicht immer und immer noch Jungfrau nach siebenjähriger Ehe. Wer nicht die weibliche Verzweiflung hinter der Vergnügungswut dieser Frau versteht, kann die merkwürdige Wandlung weder erklären noch begreifen, die dann einsetzt, als Marie Antoinette endlich Frau und Mutter wird. Mit einem Mal werden die Nerven merklich ruhiger, eine andere, zweite Marie Antoinette entsteht, jene beherrschte und willenskräftige, kühne, die sie im zweiten Teil ihres Lebens wird. Aber diese Wandlung kommt schon zu spät. Wie in jeder Kindheit, sind auch in jeder Ehe die ersten Erlebnisse die entscheidenden. Und Jahrzehnte können nicht wettmachen, was im feinsten und überempfindlichen Stoff der Seele eine einzige winzige Störung verschuldet. Gerade diese innersten, die unsichtbaren Verwundungen des Gefühls kennen kein volles Gesunden.
    All dies wäre aber nur private Tragödie, ein Mißgeschick, wie es sich auch heute tagtäglich hinter geschlossenen Türen abspielt. In diesem einem Fall jedoch reichen die verhängnisvollen Folgen einer solchen ehelichen Peinlichkeit weit über das private Leben hinaus. Denn Mann und Frau sind hier König und Königin, sie stehen unentrinnbar im verzerrenden Hohlspiegel der öffentlichen Aufmerksamkeit; was bei andern vertraulich bleibt, nährt bei ihnen Schwatz und Kritik. Ein so mokanter Hof wie der französische begnügt sich natürlich nicht mit der bedauernden Feststellung des Mißgeschicks, sondern schnuppert unablässig um die Frage herum, in welcher Weise sich Marie Antoinette für das Versagen ihres Gatten schadlos halte. Sie sehen eine reizende junge Frau, selbstbewußt und kokett, ein temperamentvolles Geschöpf, in dem das junge Blut braust, und wissen, an welche jämmerliche Schlafhaube diese himmlische Liebhaberin geraten ist: nun beschäftigt das ganze müßige Türhüterpack nur eine Frage, mit wem sie den Gatten betrüge. Gerade weil es tatsächlich nichts zu berichten gibt, gerät die Ehre der Königin in frivoles Gerede. Ein Ausritt mit irgendeinem Kavalier, einem Lauzun oder Coigny, und schon haben ihn die müßigen Schwätzer zu ihrem Geliebten ernannt; eine morgendliche Promenade im Park mit den Hofdamen und Kavalieren, und sofort erzählt man von den unglaublichsten Orgien. Unablässig beschäftigt der Gedanke an das Liebesleben der enttäuschten Königin den ganzen Hof; aus dem Geschwätz werden Chansons und Libelle und Pamphlete und pornographische Gedichte. Erst stecken sich, hinter dem Fächer verborgen, die Hofdamen diese kantharidischen Verslein zu, dann summen sie frech aus dem Haus, werden gedruckt und geraten unter das Volk. Als dann die revolutionäre Propaganda beginnt, brauchen die jakobinischen Journalisten nicht lange nach Argumenten zu suchen, um Marie Antoinette als den Ausbund aller Ausschweifung, als schamlose Verbrecherin hinzustellen, und der öffentliche Ankläger braucht nur einen Griff in diese Pandorabüchse galanter Verleumdungen zu tun, um das schmale Haupt unter die Guillotine zu drücken.
    Über eigenes Geschick, Ungeschick, Mißgeschick reichen hier also die Folgen einer ehelichen Störung bis in das Weltgeschichtliche hinein: die Zerstörung der königlichen Autorität hat in Wahrheit nicht mit der Bastille, sondern in Versailles begonnen. Denn daß diese Nachricht von dem Versagen des Königs und die boshaften Lügen von der sexuellen Unersättlichkeit der Königin so rasch und so weit aus dem Schlosse von Versailles zur Kenntnis der ganzen Nation kamen, war kein Zufall, sondern hat geheime familien-politische Hintergründe. Es leben nämlich in diesem Palast vier oder fünf Personen, und zwar die nächsten Verwandten, die an der ehelichen Enttäuschung Marie Antoinettes persönliches Interesse haben. Vor allem sind es die beiden Brüder des Königs, denen es außerordentlich willkommen ist, daß durch diesen lächerlichen physiologischen Defekt und die Furcht Ludwigs XVI. vor dem Chirurgen nicht nur das normale Eheleben, sondern auch die normale Erbfolge zerstört wird, denn sie erblicken darin eine unerwartete Chance, selbst auf den Thron zu gelangen. Der nächstälteste Bruder

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