Stefan Zweig - Gesammelte Werke
Einheit, der Sprache die Reinheit vorgeschrieben. Von seiner Person war dieser Vereinheitlichungswille ausgestrahlt, zu seiner Person sollte darum aller Glanz wieder zurückfluten. »Wo ich bin, da ist der Staat«, wo ich wohne, da ist der Mittelpunkt Frankreichs, der Nabel der Welt: um diese völlige Uneingeschränktheit seiner Stellung zu versinnlichen, verlegt der Roi-soleil seinen Palast mit Absicht weg von Paris. Eben indem er seine Residenz völlig ins Leere stellt, betont er, ein König von Frankreich brauche nicht die Stadt, die Bürger, die Masse als Stütze oder Folie seiner Macht. Genug, daß er den Arm ausstreckt und gebietet, und schon entstehen auch aus Sumpf und Sand Gärten und Wald, Kaskaden und Grotten, der schönste und mächtigste Palast; von diesem astronomischen Punkt, den seine Willkür eigenmächtig gewählt, geht von nun ab die Sonne seines Reiches auf und unter. Versailles ist erbaut, um Frankreich sinnfällig zu beweisen, daß das Volk nichts ist und der König alles.
Aber schöpferische Kraft, sie bleibt immer nur an den Menschen gebunden, den sie erfüllt; nur der Kronreif vererbt sich, nicht die ihm eingeschlossene Macht und Majestät. Enge, gefühlsschwache und genießerische Seelen, nicht mehr gestaltende, erben mit Ludwig XV. und Ludwig XVI. den weiten Palast, das groß gegründete Reich. Äußerlich bleibt unter ihnen alles unverändert: die Grenzen, die Sprache, die Sitte, die Religion, die Armee; zu stark hat jene entschlossene Hand die Formen geprägt, als daß sie in hundert Jahren verlöschen könnten, aber bald fehlt den Formen der Inhalt, die glühende Materie des schöpferischen Triebes. Als Bild verändert sich Versailles unter Ludwig XV. nicht, nur an Bedeutung: noch immer wimmeln in prachtvollen Livreen dreitausend, viertausend Bediente in den Gängen und Höfen, noch immer stehen zweitausend Pferde in den Ställen, noch immer funktioniert in wohlgeölten Scharnieren der künstliche Apparat der Etikette bei allen Bällen, Empfängen, Redouten und Maskeraden, noch immer paradieren durch die Spiegelsäle und goldschimmernden Gemächer die Kavaliere und Damen in brokatenen, seidenplissierten und edelsteinbesetzten Prunkkleidern, noch immer ist dieser Hof der berühmteste, raffinierteste und kultivierteste des damaligen Europa. Aber was vordem Ausdruck strömender Machtfülle gewesen, ist längst nur noch Leerlauf und seelenloser, sinnloser Betrieb. Wieder ist ein Ludwig König, aber er ist kein Herrscher mehr, sondern ein gleichgültiger Frauenknecht; auch er versammelt Erzbischöfe, Minister, Feldherren, Architekten, Dichter, Musiker um den Hof, aber so wie er selbst kein Ludwig XIV., so sind jene keine Bossuets mehr, keine Turennes, Richelieus, keine Mansarts, Colberts, Racines und Corneilles, sondern ein stellengieriges, geschmeidiges, ränkesüchtiges Geschlecht, das bloß genießen will, statt zu gestalten, nur am Geschaffenen schmarotzen, statt es mit Willen und Geist zu durchbluten. In diesem marmornen Treibhaus entfalten sich keine kühnen Pläne mehr, keine entschlossenen Neuerungen, keine dichterischen Werke, nur die Sumpfpflanzen der Intrige und Galanterie schießen hier üppig auf. Nicht die Leistung entscheidet mehr, sondern die Kabale, nicht das Verdienst, sondern die Protektion; wer am tiefsten beim Lever vor der Pompadour oder Dubarry den Rücken bückt, kommt am höchsten hinauf; statt der Tat gilt das Wort, statt des Wesens der Schein. Nur füreinander spielen sich diese Menschen in ewiger Inzucht ihre Rollen als König, als Staatsmann, als Priester, als Feldherr mit sehr viel Grazie völlig zwecklos vor; Frankreich, die Wirklichkeit, haben sie alle vergessen, nur an sich denken sie, an ihre Karriere, ihr Vergnügen. Versailles, von Ludwig XIV. als Forum Maximum Europas gedacht, sinkt unter Ludwig XV. herab zu einem Gesellschaftstheater adeliger Amateure, allerdings dem künstlichsten und kostspieligsten, das jemals die Welt gekannt hat.
Auf dieser großartigen Bühne erscheint jetzt mit dem zaudernden Schritt der Debütantin zum erstenmal ein fünfzehnjähriges Mädchen. Sie spielt zunächst nur eine kleine Proberolle: die der Dauphine, der Thronfolgerin. Aber die hochadelige Zuschauerschaft weiß, dieser kleinen blonden Erzherzogin aus Österreich ist für später die Hauptrolle in Versailles zugedacht, die Rolle der Königin, deshalb richten sich sofort nach ihrer Ankunft alle Blicke neugierig auf sie. Der erste Eindruck ist vortrefflich: seit langem
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