Stehaufmaennchen
amputieren.
Will noch mehr von Opas Heldentaten hören, muss aber warten, denn Opas Arzt kommt zu Besuch. Schaue zu, wie derArzt ihm den Puls und den Zucker misst. Dann hebt der Arzt drohend den Zeigefinger und sagt zu Opa, er soll auf seinen Zucker achten, sonst würde er sein anderes Bein auch noch verlieren. Vor allem, weil er doch so viel raucht. Erzähle stolz dem Arzt, dass Opa sein Bein selbst abgeschnitten hat. Der Arzt guckt mich komisch an. Dann guckt er Opa komisch an, der plötzlich einen sehr heftigen Hustenanfall bekommt. Ich würde mich irren, meint der Arzt. Denn er selber hätte es amputiert, und Opas Bein sei ein Opfer der Diabetes. Frage Opa, ob die Diabetes auch in Stalingrad gekämpft hätten. Der Arzt meint, Opa sei nie in Stalingrad gewesen, und Diabetes sei eine Krankheit und keine Kampftruppe. Bin entsetzt. Wie kann der Arzt meinen Opa nur so in den Dreck ziehen? Fange an zu weinen. Bin so wütend, dass ich den Arzt sogar haue. Mama kommt und zieht mich weg. Opa hat einen roten Kopf. Obwohl er gerade gar nicht hustet.
Abends gibt‘s eine Standpauke. Allerdings nicht für mich, sondern für Opa. Sitze nebenan und lausche. Wie er dem Kind so eine Angst machen könnte, und er soll endlich mit dem Stalingrad-Märchen aufhören.
Später im Bett denk ich nach. Opa war wohl nicht in Stalingrad. Und Mut hat er auch nicht bewiesen. Zumindest nicht in Stalingrad. Aber Opa hat Phantasie. Denn ich fand seine Geschichte sehr spannend. Und das ist ja auch was Schönes. Beschließe, auch so viel Phantasie wie Opa zu bekommen, und schlafe ein. Nachts träume ich von Tannenzapfen, die wie Raketen durch die Luft sausen und dabei Hindurch, hindurch mit Freuden singen.
Schon mal ein guter Anfang ...
9. Twaalf paar Klompe
8. Dezember 1969
Bin aufgeregt. Ich darf in diesem Jahr im Weihnachtsstück unserer Schule mitspielen. Im letzten Jahr wurde Rotkäppchen gespielt. Rotkäppchen geht so: Rotkäppchen geht mit einem Korb Leckereien zur Großmutter. Unterwegs trifft sie den Wolf und erzählt, dass sie zur Großmutter geht. Der Wolf geht vor und frisst schon mal die Großmutter. Als das Rotkäppchen kommt, frisst er es auch. Den Leckerkorb lässt er liegen. Ein Jäger schneidet dem Wolf den Bauch auf. Großmutter und Rotkäppchen kommen heraus und der Wolf stirbt. Dann verbeugen sich alle (auch der tote Wolf), und das Stück ist zu Ende.
Ich will natürlich die Hauptrolle. Den Wolf. Ich würde das Stück aber etwas ändern. Die Großmutter würde ich streichen. Das Rotkäppchen geht mit einem Leckerkorb in den Wald. Der Wolf frisst die Leckereien auf. Das Rotkäppchen holt neue, die der Wolf auch frisst. Dann hat das Rotkäppchen keine Lust mehr, Leckereien zu holen. Der Wolf wird böse und es kommt zum einem Pistolenduell zwischen ihnen. Das Duell dauert acht Stunden. Als Zugabe frisst der Wolf das Rotkäppchen. Ende.
Bereite mich auf meine Rolle vor, indem ich mir eine braune Decke überziehe und als Wolf durch die Wohnung streife. Rotkäppchen wird von meinem Teddy gespielt. Ist zwar kein echtes Mädchen, doch zum Üben reicht es. Der Leckerkorb ist aber echt. Damit ich mich besser in die Rolle einfühlen kann, füll ich ihn mit Kinderschokolade, Smarties und Bahlsen Crackers. Futteredrei Körbe leer und bin zufrieden. Schauspielerei macht Spaß. Die Premiere kann kommen.
9. Dezember 1969
Unsere Lehrerin sagt, dass wir nicht Rotkäppchen spielen werden, sondern ein anderes, moderneres Stück: De twaalf paar Klompe . Das Stück kommt aus Holland und geht so: Eine Mama von zwölf Kindern schaut abends vor die Tür und zählt die Schuhe der Kinder, um zu gucken, ob auch alle zu Hause sind. Sie zählt aber nur elf paar Schuhe und fragt sich, wo das zwölfte Kind ist. Der Papa zählt sicherheitshalber die Schuhe nach und kommt auch nur auf elf. Dann zählen Opa, Oma, Uropa und Uroma. Alle kommen nur auf elf. Am Ende stellt sich heraus, dass das zwölfte Kind schon im Bett liegt und vergessen hat, die Schuhe auszuziehen. Das war‘s. Kein Wolf, kein Leckerkorb, keiner wird gefressen, kein Pistolenduell. Bin enttäuscht vom modernen Theater.
12. Dezember 1969
Erste Probe. Ich soll den Opa spielen. Werner spielt die Mama und tritt als Erster auf. Er legt sich schwer ins Zeug und rudert wild mit den Armen.
»Schon spät am Abend. Ich will doch mal sehen, ob auch alle zwölf Kinder zu Hause sind.«
Dann schaut er mit wichtiger Miene auf die Schuhe und beginnt, sie zu zählen. Auf Holländisch. So steht es im
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