Steile Welt (German Edition)
talwärts zu geniessen und letzte Erinnerungsfotos zu schiessen. Ganz Mutige zwängen sich an einen Wirtshaustisch. Ob es allerdings noch reicht für eine Konsumation, bleibt dahingestellt. Selber macht man sich zu Fuss auf den Rückweg.
scüpetígn
Man sitzt in der Stille und hört Stimmen. Die Stimmen derer, die im grossen Kreis sitzen im Altersheim, mit zahnlosen, halb offenen Mündern, und aus traurigen Augen die Neuankömmlinge mustern. Die Stimmen derer, die in den trüben Küchen sitzen, sich mit der Zeitung oder der Zubereitung der Mahlzeiten befassen. All derer, die sich in der Nacht die Sorge um die Zukunft teilen, oder derer, die auf ein kleines Wunder warten. Es gibt sie noch, solche, die sich den Luxus der Hoffnung gönnen. Noch ist nichts verloren bis auf die Gewissheit.
Das Tal ist heil, die Natur, die Dörfer sind mit wenigen Ausnahmen verschont geblieben vor menschlicher Verwüstung. Gleichwohl ist es alles andere als heile Welt, die noch eine Weile hält.
Was passiert mit dieser ursprünglichen Natur und den robusten Häusern, die mit ihren massiven Steindächern den äusseren Einflüssen trotzen. Wer setzt sich dafür ein, dass die Post ihren Verkehr nicht einstellt und der Bäcker weiterhin sein Brot ausfährt, wenn nur noch die Teilzeitgeniesser hier die wärmeren Tage verbringen.
Die Gedanken drücken aufs Gemüt, so wie die Hitze auf den Tatendrang. Tage der Schwere trotz strahlend blauem Wetter, die Sommerlaune ist verflogen mitsamt den romantischen Vorstellungen, die man im Reisegepäck bei sich trug. Man wollte schreiben über Schönheit, Schlichtheit und Naturnähe, von der Kraft der Ursprünglichkeit und der Beherztheit der Menschen. Dann wendet sich das Blatt. Wird das hier nun ein Armutszeugnis?
Der Sturm kommt nicht unverhofft. Angekündigt von Radio, Zeitung und den Wetterfühligen, stellt man sich bereits am Abend darauf ein und macht die Kerzen bereit. Nach Tagen der schier erdrückenden Hitze erscheint ein Unwetter als Erlösung von der dicken, schweren Luft, die über den Bergen lastet. Es wird schlimmer, als man denkt. Wenn es nicht so heftig wäre, man risse Fenster und Türen auf und machte der Schwüle Luft.
Der Wind rüttelt an allem, was nicht fest ist, lässt Blumentöpfe zu Boden krachen, sie platzen auf, und die Erde vermischt sich mit dem Wasser, das sich bereits zentimetertief unter der Terrasse staut. Die Strom und Telefondrähte über den Dächern schaukeln in den Sturmböen, die Masten schwanken, unsicher, ob sie den himmlischen Mächten standhalten. Es regnet waagrecht. Dicke Tropfen prasseln an Fenster und aufs Dach, übertönen den Donner, der mit jedem Blitz noch lauter wird. Das Wasser verschafft sich Einlass unter der Tür. Noch wird es lange Nacht sein, aber an Schlaf ist nicht mehr zu denken. Im Flackern des Blitzlichts holt man rein, was noch zu retten ist, entfernt gefährdete Teppiche vor den Fenstern und nimmt den Kampf auf gegen die Pfützen. Einmal mehr merkt man, wozu die Granitdächer gut sind. Hier ist der Wind machtlos. Ein Stein bleibt auf dem anderen. Das ist doch schon etwas. In der ersten Morgendämmerung lässt der Regen nach, das Grollen verzieht sich hinter die Bergrücken. Die Ziegenherde zieht triefend und scheppernd vorbei, man gönnt sich noch eine Stunde Schlaf.
Der Morgen ist ganz frisch und neu. Die Strasse voller Blätter, Äste und Geröll. Der Himmel, sauber und rein, trocknet frisch gewaschen in der klaren Morgenluft. Es riecht nach Herbst. Letzte Nebelschwaden schleichen in der Tiefe talabwärts.
Der Besen liegt quer auf der Treppe. Der Wind hat ihn vom Nagel gerissen und die Madonna vom Sockel. Ihr ist kein Unheil geschehen, sie ist noch ganz. Mit ihrem demütigen Blick auf die gefalteten Hände nimmt sie wieder Platz auf dem Mauersims. Die Türvorleger werden vor dem Haus an die Sonne gelegt, Laub, Sand und Erde weggefegt. Mit der Beseitigung der Verwüstungen leert sich auch der Kopf. Den hat das Gewitter einem auch gewaschen. Die Schwermut weggeblasen mitsamt der erdrückenden Last der aufgestauten Hoffnungslosigkeit.
Es liegt nicht nur Schwere über dem Tal. Es gibt ebenso die Leichtigkeit, welche das beschwerliche Leben hier erträglich, ja sogar lebenswert macht. Der Reichtum des Tals liegt in seinen Gegensätzen und Widersprüchen. Wer Ruhe sucht, wird auch Sturm finden, wer nach dem Schönen trachtet, dem wird manch Schäbiges vor Augen geführt. Die Ernüchterung nach der anfänglichen, ziemlich naiven
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