Steile Welt (German Edition)
selber im Griff haben. Bist allein mit dieser Kiste und den Fahrgästen. Und für die bist du dann verantwortlich. Am Anfang war das für mich eine rechte Belastung. Nicht dass ich direkt Angst gehabt hätte, aber man steht halt schon unter einem gewissen Druck. Einen Unfall darf man hier nicht riskieren. Eine Verfehlung bedeutet ja nicht nur, dass man von der Strasse abkommt. Da folgt ein Sturz in den Abgrund. Das würde nicht gut enden. Im Winter wird die Herausforderung noch einmal grösser. Vor allem, wenn du die erste Fahrt hast am Morgen. Da weisst du noch nicht, wie die Strasse sein wird. Ob sie schon überall geräumt haben, ob irgendwo eine Lawine runtergekommen ist und ob es vielleicht vereiste Stellen hat. Da montiert man dann schon mal vorsichtshalber die Ketten, bevor es losgeht. Wir haben ja die Möglichkeit, hier oben zu übernachten. Es gibt eine kleine Wohnung für die Chauffeure, also, es ist ja mehr ein Zimmer mit Wasch und Kochgelegenheit. Diese Möglichkeit nutze ich manchmal, wenn ich im Winter am Morgen den ersten Kurs habe. Dann muss ich nicht ganz so früh aufstehen. Der Nachteil ist dann natürlich, dass ich die Strassenverhältnisse nicht bereits vom Hinauffahren kenne.
Ich bin ja gespannt, wie dann das im Winter geht mit dem neuen Postauto. Das ist ja ein Automat. Gut, ich kann auch auf Handschaltung umstellen, sonst wäre das wohl gar nicht zu machen. Diese neuen Autos sind nicht gemacht für solche Strassen. Die sind gut in der Stadt, wo es flach, aber eng ist. Doch dazu haben sich die Fahrer nicht zu äussern. Die müssen mit dem Material arbeiten, das ihnen zur Verfügung gestellt wird. Wenn die Firma neue Autos braucht, dann bestellt sie welche. Und wenn sie fünfzig bestellen kann, dann wird es billiger. So wird der gesamte Wagenpark erneuert, ungeachtet der Voraussetzungen, unter denen das Auto fahren muss. Da werden dann nicht unterschiedliche, ihrem Zweck entsprechende Fahrzeuge gekauft. Der Platz des Fahrers ist ebenfalls nicht gemacht für Bergstrecken. Das Armaturenbrett kommt viel zu weit rauf. Das heisst, die Scheibe geht nicht so weit nach unten, dass man gut auf die Strasse sehen könnte. So geht viel vom Überblick verloren. Da muss man sich auch erst dran gewöhnen. Und eben, an all den ganzen Computer-Schnickschnack. Aber das ist ja in allen neuen Autos so. Dass man wie in einem Cockpit sitzt, inmitten von Lämpchen und Anzeigen. Die muss man alle erst in den Griff bekommen. Dann wird das schon gehen. Wenn ich unten fahre, dann habe ich immer solche Autos. Und da sind die dann schon ganz praktisch. Auch, dass mehr Stehplätze zur Verfügung stehen und man seine Einkäufe irgendwo abstellen kann. Auch der Mittelgang ist etwas breiter. Das macht aber dann gerade das ganze Auto breiter. An gewissen Stellen fehlen jetzt nur noch Zentimeter zwischen den Häusern. Breiter dürfte es also nicht mehr sein.
Manchmal fährt man ja nur für ein, zwei Personen. Aber auch das ist wichtig. Es wäre eine Katastrophe für das Tal, wenn diese Linie nicht mehr betrieben würde. Im Sommer haben wir schon viele Fahrgäste. Manchmal fast zu viele. Wenn Gruppen kommen, die nicht reserviert haben, wird es sehr eng mit dem Platz. Manche wollen es dann nicht begreifen, dass sie ihr Gepäck unten verstauen müssen, meinen, es hätte da schon genug Platz für ihre schweren Rucksäcke. Mit denen rempeln sie aber nur die anderen an, die da schon sitzen, weil der Durchgang in der Mitte so eng ist. Da gibt es dann schon ab und zu böse Kommentare. Oder auch nur Blicke. Wenn wir wissen, dass viele kommen, weil sie sich angemeldet haben, dann fahren wir oft mit zwei Autos hintereinander. Längere Busse können wir nicht nehmen. Für die sind die Kurven zu eng.
Mit der Zeit kennt man die Leute. Wenn ich nicht so viele Fahrgäste habe, lasse ich die Leute möglichst nah an ihren Häusern aussteigen, egal, ob da gerade eine Haltestelle ist oder nicht. Diese Freiheit nehme ich mir dann schon. Die, die mit dem Postauto einkaufen, sind um jeden Schritt froh, den sie weniger machen müssen mit den schweren Taschen. Das hat nichts damit zu tun, dass man sich beliebt machen möchte. Das ist einfach eine Dienstleistung, die mir selber ja keine Nachteile einbringt.»
Dann wird die Zeitung aufgeschlagen. Das Thema hat sich erschöpft. Beruf ist Beruf, und der Arbeitstag dauert noch ein paar Stunden. Die ersten Fahrgäste sammeln sich bereits auf dem Parkplatz. Eine halbe Stunde haben sie noch, um die Aussicht
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