Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell
dem Appellplatz eines Konzentrationslagers einen ganzen Tag lang Leichen ausgekleidet, Hosen, Hemden, Röcke voller Blut und Exkrementen von kalten Gliedern gestreift und gekrümmte Leiber zu Scheiterhaufen gestapelt hat, um eine Sonderration zu erhalten (zwei Scheiben Wurst und einen Brotkanten), die das eigene Überleben wahrscheinlicher machte. Da das Schlimmste schon Realität war, gilt keine Ausrede mehr, kein bequemer Pessimismus. Seine kämpferische Haltung und sein Optimismus sind Folgerungen aus einer persönlichen Erfahrung des menschlichen Bösen in seiner brutalsten Form – sowie der Erfahrung, dass man es überwinden kann.
Das heißt nicht, dass man alle von Hessel vertretenen Positionen und politischen Orientierungen in jedem Punkt teilen muss. Aber man kann von seiner Persönlichkeit nur frappiert sein. Und auf seine Person sollte man vor allem schauen, auf seine Lebensgeschichte und auf seinen Stil. Der Stil ist der Mensch selber, die alte Definition gilt hier unbedingt, aber der Stil ist Resultat der Verarbeitung einer bestimmten Erfahrung, einer Laufbahn, in welcher derKampf und der Tod und die Poesie ihren Platz hatten – aber auch die Liebe.
Er war ein Ästhet und ein Liebender, ein Widerständler und ein Zeitzeuge, ein Diplomat und Kunstfreund, ein Denker und ein Weltbürger, ein Weltreisender und ein Erbe, aber er wurde fast über Nacht ein Aufrührer, ein Anstifter, ein Rebell, auf den sich Protestbewegungen in aller Welt beriefen. Damit hatte niemand gerechnet, am wenigsten er selbst, zumal er sich nicht verändert hatte, nur das gesagt hatte, was er immer schon dachte. Aber der Widerhall war und ist so gewaltig, dass sich auch der Blick auf den Menschen Hessel verändert.
Literatur, Liebe, Politik, Engagement – wie passt das zusammen? Es passt, wenn man die Bereiche nicht trennt, sondern in seiner Person, in seinem Stil, in seinem Charakter zusammendenkt. Freiheit, Glück, Solidarität, das ist die Devise dieses »Ambassadeur de France«, der eben auch eine bestimmte Idee von Frankreich besitzt – und verkörpert. Das Glück aber, von dem der Revolutionär Saint-Just gesagt hatte, es sei eine neue Idee in Europa, stand für ihn an oberster Stelle. Damit es möglich würde, wären Freiheit und Solidarität vonnöten. Auf Kosten anderer zu leben wäre kein Glück. Der Kern der Menschenwürde ist eben das Recht auf Freiheit und Glück. Und dieser Anspruch verkörpert sich für Stéphane Hessel in der Poesie. Ist die eigene Würde aber bedroht, muss man sie verteidigen.
S’indigner
: seine Würde bewahren gegen alles, was sie unterdrücken will. Nicht einfach Revolte als Selbstzweck.
Seit einiger Zeit liebt die biographische Branche Titel in der Art: Die vier Leben, Die sieben Leben, oder gar Die hundert Leben von XYZ. Stéphane Hessel lebt seit bald hundert Jahren und hat viel erlebt. Dennoch wäre bei ihm eine solche Multiplikation ganz unangemessen, zumal sie eine gewisse Instabilität suggeriert. Er hatte und hat nur einLeben, aber ein sehr reiches, vielfältiges und doch über so viele Brüche hinweg kontinuierliches. Die Einheit der Persönlichkeit ist bei ihm das Entscheidende, das Wirksame, er ist ganz aus einem Stück, eine glaubhafte, kohärente, unverwechselbare Person. Stimme, Tonfall, Blick, Kopfhaltung, schwungvoller Gang gehören zu seinem Stil, der bewusste Wechsel zwischen pointierten Sätzen und geschmeidigvagen Aussagen, die Raum für Annäherungen lassen, und dann wieder die Lust am klanggenauen Aufsagen gebundener Rede, an Versen und Strophen.
Was hier versucht wird, ist ein Porträt, in das Elemente einer Lebensgeschichte einfließen, aber auch persönliche Erfahrungen, Reflexionen und Analysen, ein Nachdenken über seine Wirkung und das Echo. Es gilt ein Bild zu schaffen, in dem die Zeit selbst aufgehoben ist: der Junge mit der Zipfelmütze, der Knabe im Berliner Zoo, der Pfadfinder in den Wäldern bei Paris, der phantasiebegabte Schüler, der junge Abenteurer, der frühe Liebende, der Geheimagent, der Kämpfer, der Diplomat, der Zeitzeuge, der Empörer und Bestsellerautor, der Erreger und Anreger, der Botschafter des Glücks.
Teil 1: EIN LEBEN
Verhaftet in Paris
No longer mourn for me when I am dead
. Warum fällt ihm gerade dieser Vers ein? Wenn ich tot bin, trauert länger nicht um mich … Seit Greco den Revolver in seinem Rücken spürte, hat sich alles verändert. Seit dem Kommando »Hände hoch!« ist sein Körper zugleich starr und angespannt.
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