Sterben Sie blo nicht im Sommer
das Notwendigste gedacht: die Wunde zu säubern. Das wird nun nachgeholt. Wolfgang G. trägt die Schiene die nächsten drei Wochen nur noch bei Ausflügen. Wieder daheim, will der behandelnde Orthopäde sich nicht mehr an seine Diagnose erinnern. Nun heißt es, Wolfgang G. habe eine Arthrose.
Ein »Es tut mir wirklich leid!« hätte da nicht nur gezeigt, dass man den Patienten nicht für einen kompletten Vollidioten hält, der Dinge hört, die angeblich niemals gesagt wurden, der Schmerzen hat, die er nicht haben darf. Mit einer Entschuldigung demonstriert man seine Bereitschaft, dazuzulernen. Man gibt dem Patienten Zuversicht, dass mit dem nächsten etwas sorgsamer umgegangen wird. Der Lernbedarf scheint groß zu sein. 5 Prozent der routinemäßigen Autopsien offenbaren, so schreibt Der Spiegel , dass dem Tod eine Fehldiagnose vorausgegangen war. »Für Deutschland und andere westliche Länder fehlen Zahlen, aber allein in US -Kliniken sterben jedes Jahr schätzungsweise 80.000 Menschen nach Pannen bei der Diagnose.« [3] .
Welche Einzelfälle hinter diesen Zahlen stehen, zeigt ein weiteres Kapitel aus der Krankenakte von Wolfgang G. Er hatte sechs Monate nach einer Hüftoperation unter starken Schmerzen gelitten. Erst in der operierten Hüfte, dann im Oberschenkel. Der behandelnde Knie- und Hüftspezialist konnte nichts Außergewöhnliches feststellen. Er verordnete Krankengymnastik, die jedoch nichts an den Schmerzen änderte. Der nächste Arzt verschrieb zehn Mal Akupunktur für 500 Euro. Der dritte Arzt ließ für 500 Euro ein MRT von Wirbelsäule und Hüfte erstellen und meinte darauf, eine spinale Einengung im Lendenwirbel zu erkennen. Arzt Nummer vier fand, das sei doch jetzt eine prima Gelegenheit für den Jahres-Check-up – Kosten 600 Euro –, und verkündete, der Patient sei kerngesund. Als der kerngesunde Patient dann auch noch anfing stark zu husten, kam der fünfte Arzt zum Zuge. Der fand sie endlich, die Lungenembolie. Da war ein Viertel des einen Lungenflügels schon abgestorben. Leider gehört Wolfgang G. nicht allein gleich neben Carlo Little (der damals den Einstieg bei den Rolling Stones verpasste) in die Top-Ten der größten Pechvögel aller Zeiten. Es gibt unendlich viele Menschen da draußen, die Ähnliches erleben, wie auch eine 47-Jährige aus Norddeutschland. Ihr wurden Zäpfchen sowie Salben verordnet, weil sie aus dem Anus blutete. »Obwohl die Blutungen wochenlang anhielten, obwohl die Patientin sich achtmal vorstellte, hielt es die Ärztin nicht für nötig, den Enddarm der Gepeinigten mit dem Finger zu inspizieren. Das tat dann Monate später ein Urologe – und ertastete sofort ein Krebsgeschwür.« [4]
Fehlleistungen, für die es eine Vielzahl möglicher Gründe gibt. Einer, der auch auf der Website jeder-fehler-zaehlt.de besonders häufig auftaucht: die Hektik in den Praxen. Zeitmangel verstärkt zwangsläufig die Kommunikationsprobleme und damit die Fehlerquote. Die Anamnese – also das Patientengespräch – ist in den letzten zwanzig Jahren auf ein Fünftel der Zeit geschrumpft, die es vordem einnahm. Exakt 103 Sekunden lang lassen Ärzte ihre Patienten durchschnittlich während einer Sprechstunde reden. Es spricht in erster Linie der Arzt [5] , als wäre es sein Körper, über den da verhandelt wird, seine Symptome, seine Gesundheit. So spart man Zeit und riskiert Irrtümer. Daneben gibt es allerdings noch einige andere beträchtliche Risikofaktoren aus dem Bereich der sogenannten ›Human Factors‹:
1. Hoffnung auf einen guten Ausgang
Ärzte diagnostizieren demnach unbewusst eher Krankheiten, die erfolgreich zu behandeln sind.
2. Häufung
Kam in letzter Zeit eine Krankheit – beispielsweise Grippe – besonders häufig in der Praxis vor, erhöht das die Wahrscheinlichkeit weiterer, gleicher Diagnosen ebenso wie die Gefahr, dass Krankheiten – nur weil sie sehr viel seltener vorkommen – übersehen werden.
3. Wahrscheinlichkeit
Obwohl Patienten durchaus verschiedene Krankheiten gleichzeitig haben können, legen Ärzte sich auf die Diagnose fest, die statistisch am häufigsten vorkommt.
4. Selbstüberschätzung
Ärzte machen keine Fehler, und je mehr sie davon ausgehen, dass das so ist, umso eher neigen sie dazu, ihre Diagnosen nicht in Frage zu stellen.
5. Versunkene Kosten
›Sunk costs‹ ist ein Phänomen, das man auch in der Wirtschaft oder in Partnerschaften häufig antrifft: Je mehr in eine Sache – also auch in eine Diagnose – schon
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