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Sterben Sie blo nicht im Sommer

Sterben Sie blo nicht im Sommer

Titel: Sterben Sie blo nicht im Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constanze Kleis
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investiert wurde, je mehr Einsatz also bereits ›versenkt‹ wurde, desto geringer die Bereitschaft, eine andere Richtung einzuschlagen oder ein einmal gefasstes Urteil zu revidieren, weil man nur die Verluste der bereits getätigten Investitionen sieht und nicht den Gewinn einer Kursänderung.
    6. Ankereffekt
    Der erste Eindruck dominiert alle weiteren – die Wahrnehmung geht sozusagen schon sehr früh bei einer Annahme vor Anker –, und in der Folge werden Symptome, die anderes vermuten lassen, ignoriert.
    Zwei Tage nachdem wir von dem Hausarzt quasi vor die Tür gesetzt worden sind, kehrt meine Mutter von einem Zahnarztbesuch in der Stadt nicht mehr zurück. Selbst mein Vater macht sich nun Sorgen. Während ich noch auf der Frankfurter Zeil nach ihr suche, verzweifelt genug, um zu hoffen, sie zwischen Tausenden von Menschen auf einer von Deutschlands belebtesten Einkaufsstraßen zu entdecken, ruft mich meine Schwester an. Zwei Frauen haben unsere Mutter in einem Frankfurter Stadtteil weit abseits ihres eigentlichen Weges völlig entkräftet und leicht verwirrt aufgefunden. Sie liegt in der Notaufnahme eines Krankenhauses. Eine Viertelstunde später bin ich bei ihr. Sie erzählt mir völlig aufgelöst, wie sie erst die falsche S-Bahn genommen habe und dann irgendwie in diesen ihr fremden Stadtteil geraten sei, an diesem extrem heißen Tag. »Ich dachte, ich muss nur laufen, laufen – bis ich etwas finde, was mir bekannt vorkommt.« Und sie lief und lief, bei weit über dreißig Grad. Aber es gab nichts Bekanntes mehr. Es ist schlimm. Es ist gut. Wir befinden uns in dieser Klinik offenbar auf der Fußmattenkuscheltierschokoladenkuchen-Seite des deutschen Gesundheitssystems. Die Ärztin hört genau zu, als ich ihr von meinen Mutter-Beobachtungen erzähle. Sie ordnet sofort verschiedene Tests an und nimmt meine Mutter erst einmal stationär auf. Als Erstes wird ein Diabetes diagnostiziert. Jetzt soll meine Mutter in der Klinik auf eine für sie optimale Insulin-Dosis eingestellt werden. Wegen der Symptome, die ich der Ärztin geschildert habe, ist für die kommenden Tage endlich auch ein MRT geplant. Es ist Freitag. Samstag, Sonntag und Montag sind mein Vater, meine Schwester und ich unendlich erleichtert darüber, meine Mutter in den Händen einer Ärztin zu wissen, die mit ihrer Aufmerksamkeit, ihrem Interesse und ihrer Umsicht unser medizinisches Karma wieder ins Lot bringt. Meine Schwester und ich lesen uns im Internet in das Thema Diabetes ein. Schaffen Diabetiker-Kochbücher, Zeitschriften und Unterhaltungselektronik ins Krankenhaus und, wegen der schnarchenden Bettnachbarin, den Porsche unter den Ohrstöpseln. Meine Mutter – sonst immer leicht aus der Fassung zu bringen und schnell den Tränen nahe – bleibt auch hier ungewöhnlich heiter. Am Dienstag ruft mich die Stationsärztin im Büro an. »Wir haben bei Ihrer Mutter einen Tumor im Kopf entdeckt. Er ist schon sehr groß. Könnten Sie gleich kommen? Wir haben es ihr gerade gesagt.«

Ihr Wille geschehe!
    Wir hatten die nächste Sylt-Reise geplant, das Sonntagsessen, den Flug nach Finnland zur Abiturfeier des Enkelsohnes. Aber nichts für den Fall, sollte einer von uns einmal schwer erkranken und nicht mehr in der Lage sein, seinen Willen zu äußern. So kam meine Mutter ganz ohne einen einzigen der empfohlenen Patienten-Beipackzettel ins Krankenhaus. Natürlich hatten wir, wann immer im Fernsehen ein Schauspieler ins Koma kam oder einem Nachbarn etwas Schlimmes passierte, angelegentlich darüber gesprochen, keinesfalls jahrelang, nur von Maschinen, einer Magensonde und einem stabilen Herzen am Leben erhalten, dahinvegetieren zu wollen. Dann sagten wir, was vermutlich alle bei dieser Gelegenheit sagen: »Furchtbar! Also, auf keinen Fall will ich jahrelang an Schläuchen hängen. Habt ihr das alle gehört!?« Mit den Details wollte sich aber niemand beschäftigen. Als fürchteten wir, das Schicksal mit einer ordentlichen Vorsorge erst auf uns aufmerksam zu machen. ›Ach! stimmt!‹, würde es denken, ›da war ja noch jemand, dem man mal ein ordentliches Koma bescheren könnte.‹ Magisches Denken nennt die Psychologie diese »irrtümliche Annahme einer Person, dass ihre Gedanken, Worte oder Handlungen Einfluss auf ursächlich nicht verbundene Ereignisse nehmen, beziehungsweise ein bestimmtes Ereignis hervorrufen oder verhindern können, wobei allgemeingültige Regeln von Ursache und Wirkung ignoriert werden.« [25] Offenbar eine Volkskrankheit.

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