Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sterblich

Sterblich

Titel: Sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Enger
Vom Netzwerk:
verfluchten Worte, und als er nach unten schaute, versuchte, nach unten zu schauen, kam der Schwindel. Alles begann sich zu drehen, und es stank so verbrannt – kam das aus der Wohnung oder von seinem eigenen Gesicht? Rauch quoll durch die Tür, die sie offen gelassen hatten. Jetzt oder nie, sie mussten es tun, er schob einen Fuß zur Seite, um fester zu stehen, doch mit einem Mal war da kein Geländer mehr unter ihm, es war weg, so wie der Griff um seine Handgelenke. Jonas, wo zum Teufel bist du? Er konnte nichts sehen, nichts sehen, die Augen waren verklebt, und er schwebte, fiel der Erde entgegen, wartete auf den Aufschlag, spürte ihn bereits kurz vorher, als schwarze Wellen krachend über ihm zusammenschlugen. Dann sah er nichts mehr, spürte nichts mehr, fühlte nichts mehr, dann war alles einfach nur noch schwarz.
    Er hatte so ein Dunkel noch nie gesehen. Noch nie gesehen , was in diesem Dunkel alles Platz hatte.
    Aber jetzt sah er es.
    Jonas hatte Angst im Dunkeln.
    Wie er Jonas geliebt hat.
    Jonas .
    »In meiner Wohnung ist ein Feuer ausgebrochen«, sagt er tonlos. »Haben Sie Kinder, Hassan?«
    Hassan schüttelt den Kopf und schnauft. »Und ich werde auch nie welche haben.«
    Henning nickt wortlos.
    »Bringen wir es hinter uns?«, fragt er, während eine nüchterne Ruhe ihn erfüllt. Er ist bereit. Es macht ihm nichts aus. Lass die Ewigkeit kommen. Hassan baut sich vor ihm auf. Er zieht eine Pistole heraus, hebt sie, versichert sich, dass Henning sie sieht, und drückt sie gegen dessen Stirn.
    In diesem Augenblick ist die Dunkelheit wieder da, die Dunkelheit, auf die er so lange gewartet hat, in der die Morgen nicht hell sind, in der alle Stimmen verstummen, in der die Träume still werden und die Flammen verschwinden. Komm zu mir. Nimm mich mit in das Land der Toten, aber bitte, lass dort jemanden auf mich warten.
    Er wartet auf den Knall oder ein Puff oder Popp, falls Hassan einen Schalldämpfer benutzt. Henning glaubt, dass er den Knall noch hören wird, bevor sein Kopf explodiert. Der Tod ist grauenvoll, aber er lindert zumindest alle Schmerzen.
    Plötzlich verschwindet der Druck auf seiner Stirn. Er öffnet die Augen und sieht in Hassans Gesicht. Hassan hat den Arm gesenkt.
    »Okay«, sagt er und kommt noch ein kleines Stück näher, geht ganz dicht an ihn heran. »Aber wenn Yasser gefasst wird«, flüstert er, »und es zur Verhandlung kommt mit Ihnen als einzigem Zeugen der Anklage, kommen wir und holen Sie. Haben Sie verstanden? Vielleicht machen wir uns noch nicht einmal die Mühe, Sie zu holen.«
    Er macht einen Schritt nach hinten und fährt sich mit der Pistolenmündung über den Hals. Henning schluckt. Sie stehen voreinander und sehen sich an. Lange.
    »Haben Sie verstanden?«
    Henning nickt.
    Er hat verstanden.
    »Tor aufmachen«, sagt Hassan zu einem seiner Männer, den Blick noch immer auf Henning gerichtet.
    »Aber …«
    »Mach schon!«
    Ein Mann schlurft über den Zementboden und drückt auf einen Knopf. Die Tür gleitet scheppernd nach oben. Henning sieht Hassan an, während sich die Halle immer mehr mit Licht füllt. Der gleiche toughe Gesichtsausdruck wie zuvor. Henning zweifelt keine Sekunde daran, dass Hassan meint, was er sagt.
    Dann rastet die Tür hörbar ein.
    »Kann ich vielleicht meinen Laptop wiederhaben?«, fragt Henning.
    Hassan nickt einem der anderen Männer zu, der missbilligend gehorcht. Wenige Augenblicke später ist er wieder da und drückt Henning den Laptop in die Arme.
    Als er ins Freie kommt, rollt ein eleganter Alfa Romeo von hinten heran. Er dreht sich um und wirft einen Blick zurück in die Waschhalle. Das Tor gleitet langsam wieder nach unten, und ein kurioser Anblick bietet sich ihm. Böse, brennende Jungen, die in einer Traube zusammenstehen und ihm nachblicken. Sie sehen hart aus. Hardcore. Was für ein tolles Cover, denkt er, für eine Band, die ihr letztes Album veröffentlicht.

68
    Er hört deutlich, dass irgendwo jemand Liebe macht, doch erst als er den Schlüssel in die Wohnungstür seiner Mutter steckt, erkennt er, dass die Geräusche aus einem Fernseher kommen. Zum Glück nicht aus dem seiner Mutter. Die Geräusche kommen aus der Nachbarwohnung, in der Karl, der Hausmeister, wohnt. Er liebt Pornos.
    Henning hat seiner Mutter nie etwas davon gesagt, er ist sich aber ziemlich sicher, dass Karl sie mag. Sollte sie das wider Erwarten eines Tages eigenhändig herausfinden, kann er nur hoffen, dass sie ihm keine Vorwürfe macht, sie nicht eher informiert

Weitere Kostenlose Bücher