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Sterblich

Sterblich

Titel: Sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Enger
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Er ist die letzten Tage viel mehr gegangen als sonst. Vielleicht sollte ich mir angewöhnen, mit der Vespa zur Arbeit zu fahren, denkt er, dann muss ich nicht jedes Mal ein Taxi nehmen, wenn ich irgendwohin will.
    Es verblüfft ihn, wie schnell die Tage vergehen. Bevor er wieder angefangen hat zu arbeiten, war er froh über jede Stunde, die vorbeiging. Jetzt hat er das Gefühl, dass die Zeit ihm zwischen den Fingern zerrinnt.
    Er schaut auf die Uhr und überlegt, was er mit dem Rest des Tages machen soll. Jetzt, wo er geschlafen hat, ergibt es keinen Sinn, sich früh schlafen zu legen, also denkt er, dass er auch etwas Vernünftiges tun kann, bevor es wieder Nacht wird und Jonas’ Feueraugen ihn durchbohren.
    Mir bleibt immer noch Dælenenga, denkt er, aber eine innere Stimme sagt ihm, dass er unmöglich einen ganzen Abend stillsitzen kann. Er muss etwas unternehmen. Soll er so dreist sein, sich in die Höhle des Löwen zu begeben? Soll er bei Omar Rabia Rashid vorbeischauen? Oder sollte er lieber dem werten Yngve Foldvik einen abendlichen Besuch abstatten?
    Er unterdrückt ein Gähnen und hört Gunnar Goma durchs Treppenhaus trampeln. Henning schlurft über das verschmutzte Parkett und öffnet die Tür. Goma ist jetzt unten. Er schnauft. Schritte. Goma klingt wie ein Elefant, als er sich wieder nach oben arbeitet, langsam, aber in gleichmäßigem Tempo. Als er um die letzte Geländerkurve gebogen kommt, schiebt Henning sich in sein Blickfeld.
    »Oh, hallo«, sagt Goma und bleibt stehen. Er schnauft, stemmt sich mit den Händen auf den Knien ab und beugt sich vornüber, um tief einzuatmen.
    »Hallo«, sagt Henning und überlegt hektisch, wie noch gleich die Notfallnummer des Rettungsdienstes lautet. Er kann sich einfach nicht merken, ob es 110, 112 oder 113 ist.
    »Sie haben mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt«, sagt Goma. Er lässt sich offenbar einen Bart stehen.
    »Tut mir leid, das war nicht meine Absicht«, erwidert Henning und mustert seinen Nachbarn. Goma geht ein paar Stufen weiter nach oben. Auch heute mit nacktem Oberkörper. Der Körpergeruch ist intensiv, obgleich ein paar Meter zwischen ihnen liegen. Streng. Dieselbe rote Shorts wie beim letzten Mal.
    »Ich würde Sie gern um einen Gefallen bitten«, sagt Henning und wartet, dass Goma anhält, aber das tut er nicht.
    »Spucken Sie’s aus«, sagt er und geht weiter nach oben. »Ich höre Sie. Hier ist eine höllisch gute Akustik. Hätte vor ein paar Abenden fast eine meiner Damen hier gevögelt und die gesamte Nachbarschaft unterhalten.« Er lacht dreckig.
    Henning weiß nicht recht, wie er die Frage formulieren soll, ohne zu viel zu verraten oder als völlig bekloppt dazustehen. Und es ist nicht gerade konzentrationsfördernd, dass der fünfundsiebzigjährige geile Hengst immer weiter die Treppe rauf entschwindet.
    Er lässt es drauf ankommen.
    »Sie haben doch einen Spion in Ihrer Tür, oder?«
    Er kennt die Antwort, hat es selbst gesehen. Trotzdem fragt er.
    »Darauf können Sie einen lassen.«
    Goma bleibt wieder stehen und schnauft.
    »Arne oben in der dritten, HALLO, ARNE! «, ruft Goma. »Arne oben im dritten Stock hat abends häufig Damenbesuch, da kommt es schon mal vor, dass ich mir die Schnitten durch den Spion angucke.« Wieder die dreckige Lache.
    Arne? Arne Halldis?
    »Wieso wollen Sie das wissen?«
    »Ich bin heute Abend nicht zu Hause, es könnte aber sein, dass ich Besuch bekomme. Ich dachte nur, ob Sie, wenn Sie zu Hause sind und es zufällig mitbekommen, durch Ihren Spion gucken und sich die Leute mal ansehen könnten, und vielleicht könnten Sie sich auch merken, um welche Zeit sie ungefähr angeklopft haben?«
    Henning schließt die Augen, während er auf die Antwort wartet. Er kommt sich vor wie ein Dreizehnjähriger, der sich zum ersten Mal mit dem Mädchen seiner Träume ins Kino verabredet. Er ist sicher, dass Goma gerade überlegt, wieso zum Teufel er das wissen will.
    »Wieso zum Teufel wollen Sie das wissen? Die werden ja wohl wiederkommen, wenn sie Sie nicht zu Hause antreffen?«
    »Ja, aber es handelt sich um Besuch, der mir möglicherweise alles andere als lieb ist.«
    Stille. Selbst das akustisch perfekte Treppenhaus kann still sein.
    »Eine aufdringliche Frau?«
    »So was in der Art.«
    »Kein Problem. Ich werde aufpassen.«
    Trampel, trampel.
    »Danke.«
    Der Alte wäre ein ausgezeichnetes Interviewobjekt, denkt Henning. Die Frage ist nur, in welchem Zusammenhang und an welchem Themenschwerpunkt man das

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