Sterblich
Bewegungsmelder aussehen. Durch einen bogenförmigen Durchgang kommt er in das geräumige Wohnzimmer. In einer Ecke ein Fernseher. Esszimmerecke. Weich gepolsterte Stühle mit hohen Rückenlehnen. Weiter hinten im Raum steht ein großer rechteckiger Tisch vor einem braunen, durchgesessenen Ledersofa. Auf dem Tisch stehen drei Kerzenständer mit vanilleweißen Kerzen, die fast heruntergebrannt sind. Die weißen Leinengardinen hinter dem Sofa sind zugezogen.
Zugezogen? Warum das, so früh am Abend?
Ein dunkelbrauner, flächiger Flickenteppich verdeckt einen Riss im Parkett, den er nur sieht, weil er auf beiden Seiten des Teppichs zum Vorschein kommt. Der Esstisch ist leer. Abgeräumt, vermutlich vor Kurzem abgewischt.
Die Foldviks haben also Spaghetti gegessen, bevor sie alle zusammen irgendwohin aufgebrochen sind. Ziemlich überstürzt, wie es scheint, wenn sie noch nicht einmal die Wohnungstür ordentlich geschlossen haben, geht es ihm durch den Kopf. Weiter im Inneren der Wohnung gibt es noch eine offene Tür. Sie führt in ein Schlafzimmer. Es ist dunkel. Auch hier sind die Gardinen zugezogen. An einer Wand steht ein E-Piano. Um ein Haar wäre er über eins der Kabel gestolpert, das durch den Raum führt. Auf dem Klavier steht ein Computerbildschirm, daneben eine Maus. Aus dem Zimmer führt eine weitere Tür hinaus, durch die willkommenes Licht strömt.
Ein Badezimmer. Er geht hinein. Es ist winzig, mit weißen Fliesen auf dem Boden und einer Duschkabine in der Ecke. Das Waschbecken ist ebenfalls weiß. Darüber hängt ein Spiegel, der in einen Schrank integriert ist. Er sieht Reste von Zahnpastaspritzern, kleine weiße Flecken, öffnet den Hängeschrank und sieht hinein. Zahnbürsten, Zahnpasta, Zahnseide, Vademecum, Gesichtscremes, mehrere Pillengläser mit nach hinten gewendeten Etiketten. Er nimmt eins davon in die Hand und dreht es um. Auf dem Etikett steht Vival und Ingvild Foldviks Name. Das Glas ist fast leer. Aber nicht das weckt seine Neugier. Ganz hinten im Schrank, in der rechten Ecke, steht ein Herrendeodorant. Und obgleich er den Schriftzug nicht vollständig lesen kann, erkennt er, dass es Romance heißt.
Sein Hals schnürt sich zu. Henning sieht Thorbjørn Skagestad vor dem Zelt auf dem Ekeberg vor sich und hört ihn sagen, dass es im Zelt nach Tod und einem Herrendeodorant gerochen hat, das er selbst benutzt, um das andere Geschlecht zu bezirzen. Kann es ein Zufall sein, dass ausgerechnet dieser Duft in Yngve Foldviks Badezimmerschrank steht?
Ich weiß eine Menge über die merkwürdigsten Dinge, denkt Henning, aber mein Wissen in Bezug auf Deodorants und die Verbreitung von Romance ist sehr begrenzt. Hat Yngve Foldvik seine Lieblingsstudentin umgebracht? Oder ist das vielleicht Stefans Deo?
Er macht den Schrank wieder zu und beschließt, die Wohnung zu verlassen. Auf dem Flur bleibt er stehen, als er links neben der Toilette eine Tür entdeckt. Auf einem Blatt Papier, das über einen Nagel gezogen wurde, steht in schwarzen Großbuchstaben STEFAN . Darunter hängt ein roter Totenschädel auf schwarzem Untergrund. Er geht zu der Tür. Auch sie steht offen. Er schiebt die Tür auf. Und sieht ihn.
Stefan.
Er liegt mit offenen Augen unter der Bettdecke.
Aber sein Blick ist gebrochen, er ist tot.
54
Bjarne Brogeland sitzt in seinem Büro und starrt vor sich hin. Er hat die Hände hinter dem Kopf verschränkt und denkt nach. Dieses Mal nicht über Ella Sandland, sondern über Anette Skoppum. Ist das Mädchen in Gefahr? Und wer sollte ihr etwas antun wollen? Wo steckt sie? Brogeland richtet sich auf und nimmt den Hörer vom Telefon. Dann tippt er Emil Hagens Nummer ein.
Hagen antwortet sofort.
»Wo bist du?«, fragt Brogeland. Er klingt autoritär. Das darf er gegenüber jemandem, der noch nicht so viele Dienstjahre auf dem Buckel hat wie er selbst.
»In der Schule. Hier hat sie niemand gesehen. Ich denke, ich bleibe noch ein bisschen hier.«
»Ist denn so spät abends noch jemand da?«
»Ja, und ob, eigentlich ziemlich viele. Sie sind im Schlussspurt für die letzten Prüfungen vor den Sommerferien. Und später ist hier, glaube ich, noch eine Party. Hier hängen so Zettel an den Wänden.«
»Okay. Bleib da, und pass auf, ob sie kommt.«
»Genau das habe ich vor.«
Brogeland legt auf, ohne sich zu verabschieden, lehnt sich wieder zurück und denkt an Henning Juul. Habe ich mich wirklich so in ihm getäuscht?, fragt er sich. Nutzt er mich tatsächlich aus? Bin ich so naiv?
Sein Gedanke
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