Sterblich
Gewicht reichen, um ihn zu halten. Als er zuletzt auf der Waage gewesen ist, hat er einundsiebzig Kilo gewogen. Jetzt sind es vermutlich noch weniger.
Er setzt sich aufs Sofa und starrt an die Decke. Das Licht schaltet er gar nicht erst ein. Sollte jemand draußen auf der Straße seine Wohnung beobachten, würde er nicht bemerken, dass er nach Hause gekommen ist.
Plötzlich sieht er Stefans blasses Gesicht vor sich. Ich hoffe nur, dass er mich nicht auch noch heimsucht, denkt er.
Was bringt einen siebzehnjährigen Jungen dazu, sich das Leben zu nehmen? Falls es Selbstmord war.
Der Gedanke veranlasst ihn, sich aufzusetzen. Ist es möglich, dass es kein Selbstmord war? Hat ihm jemand das Leben genommen und es nur wie einen Selbstmord aussehen lassen? Unwahrscheinlich.
Aber was ist mit dem Drehbuch, das dort irgendwie seltsam deplatziert lag? Als wollte jemand, dass es gefunden und gelesen würde. Doch, es muss Selbstmord gewesen sein, beschließt er für sich. Stefan muss irgendwie das Skript in die Finger bekommen und es gelesen haben, und die Art, wie er es hingelegt hatte, war die Botschaft an seine Eltern oder in erster Linie an seinen Vater. Sieh her, zu was du mich getrieben hast. Und jetzt leck mich am Arsch.
Ja, so muss es gewesen sein. Aber …
Es ist typisch für Henning, dass er sich zu einer logischen Erkenntnis vorarbeitet und trotzdem so ein vages, unheilvolles Gefühl im Magen zurückbehält, als säße dort irgendwo ein kleiner Haken, der sich hin und wieder bewegt, ihn zum Nachdenken zwingt und ihn auffordert, die Teile des Puzzles noch einmal aufzunehmen und wieder neu zusammenzusetzen.
Er weiß nicht warum, denn eigentlich deutet nichts darauf hin, dass er falschliegt, aber wenn er seinem Bauchgefühl glaubt, passen die Teile von Stefans Puzzle vielleicht doch nicht so gut zusammen.
57
Gegen Morgen schläft er ein, bis er vom Hupen eines Autos wieder aufwacht. Er liegt auf dem Sofa und versucht, seine Augen an das Licht im Wohnzimmer zu gewöhnen. Es ist halb sechs. Er steht auf und schlurft in die Küche, trinkt ein Glas Wasser, holt sich die Tablettendose vom Nachtschränkchen und nimmt zwei. Die Streichholzschachtel liegt an ihrem gewohnten Platz, aber er schafft es nicht, die Soldaten der Hölle an diesem Tag zum Duell zu fordern.
Er fühlt sich, als hätte er eine Woche durchgesoffen. Er weiß, dass er etwas essen sollte, aber der Gedanke daran, altes, trockenes Brot aufzuschneiden und mit ebenso altem, vertrocknetem Aufschnitt zu belegen, ist wenig verlockend.
Er denkt an die Männer, die am Vorabend in seiner Wohnung waren. Was hätten sie getan, wenn er zu Hause gewesen wäre? Waren sie bewaffnet? Hätten sie versucht, ihn zu töten?
Er schiebt den Gedanken beiseite. Entscheidend ist doch, dass er nicht da gewesen und es nicht zu dieser Konfrontation gekommen ist. Er lässt das Frühstück Frühstück sein und macht sich auf in Richtung Redaktion, obwohl der Tag gerade erst begonnen hat.
Eine gute Stunde später wählt er Brogelands Nummer. Ein Ermittler wird nicht lange schlafen, wenn er mitten in einem Fall steckt, und Henning brennen mehrere Fragen auf der Seele. Brogelands Stimme klingt müde, als er nach langem Klingeln den Hörer abnimmt.
»Hallo, Bjarne, ich bin’s«, meldet er sich möglichst freundlich und jovial.
»Hallo.«
»Bist du wach?«
»Nein.«
»Wenigstens schon aufgestanden?«
»Das ist eine Frage der Definition.«
»Wie ist es gestern gelaufen?«
»Auch eine Frage der Definition.«
»Wie meinst du das?«
Brogeland antwortet nicht.
»Willst du damit sagen, dass es kein Selbstmord war?«
Er rutscht auf die Stuhlkante.
»Nein, nein, das habe ich nicht gesagt. Es ist alles nach Plan gelaufen, das heißt, wir haben am Tatort alles erledigen können. Worüber willst du mit mir reden? Warum rufst du so früh an?«
Bjarnes direkte, etwas harsche Antwort bringt Henning ein wenig aus dem Konzept.
»Ja, also, ich …«
»Ich muss gleich in eine Besprechung und sollte langsam aufbrechen. Wenn du kein konkretes Anliegen hast …«
»Doch, doch, das habe ich.«
»Dann spuck’s aus.«
Er braucht eine Sekunde, um seine Gedanken zu sammeln.
»Ich muss etwas wissen.«
»Was du nicht sagst.«
»Gab es in der Zeit vor dem Mord an Henriette Mailkontakt zwischen ihr und Yngve Foldvik?«
»Warum fragst du mich danach? Warum musst du das wissen?«
»Das ist einfach so, okay? Ich denke, ich habe ein gewisses Recht, es zu erfahren.«
»Recht?«
»Ja! Du
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