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Sterblich

Sterblich

Titel: Sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Enger
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distanzierter Professionalität. Eine Maske, hinter der sich alle verschanzen, die hier ihre Arbeit zu erledigen haben. Sie reden leise miteinander und werfen sich kurze Blicke zu, die viel mehr sagen als Worte. Niemand bewegt sich schnell, und es gibt auch keine schlagfertigen oder sarkastischen Wortwechsel wie in so vielen Fernsehkrimis.
    Bjarne geht ins Schlafzimmer. Ella Sandland steht über den Leichnam gebeugt da. Er hat sie von unterwegs angerufen, da sie nur wenige hundert Meter entfernt wohnt. Sie dreht sich zu ihm um.
    »Höchstwahrscheinlich Selbstmord«, sagt sie leise. Bjarne sieht sich um, er schafft es nicht, seinen Blick auf Stefan zu richten.
    »Im Glas sind noch Reste von Alkohol, vermutlich Wodka.«
    Brogeland geht zum Nachtschränkchen und riecht an dem Glas.
    »Abschiedsbrief?«
    »Bis jetzt habe ich noch nichts gesehen. Vermutlich gibt’s keinen.«
    »Vielleicht ist er ja eines natürlichen Todes gestorben.«
    Sandland nickt zögernd. Brogeland dreht sich um und nimmt den ganzen Raum in Augenschein. Dabei fällt sein Blick auf das Skript, die neunte Szene, genau wie Henning am Telefon gesagt hat. Über Stefans Bett hängt ein Filmplakat. Seven . Eine leere CD -Hülle der dänischen Gruppe Mew liegt auf dem Schreibtisch. Vermutlich steckt die CD in der Minianlage, die auf einem Hocker neben dem Bett steht und deren Lautsprecher rechts und links hinter dem Schreibtisch an der Wand hängen. Hinter dem Stuhl lehnt ein häufig benutztes Skateboard.
    »Haben wir die Eltern inzwischen erreicht?«, fragt er.
    »Ja, sie sind unterwegs.«
    »Wo waren sie?«
    »Keine Ahnung, Fredrik hat sich darum gekümmert.«
    Brogeland nickt.
    »Arme Menschen.«
    »Ja.«
    »Es gibt da ein paar Dinge, die ich ziemlich merkwürdig finde«, flüstert Sandland. Sie kommt näher.
    »Was denn?«
    »Sieh ihn dir mal an.«
    Brogeland richtet seinen Blick auf Stefan. Er sieht bloß einen toten Teenager, einen toten Jungen.
    »Was denn?«
    »Er ist nackt.«
    »Nackt?«
    »Ja.«
    Sandland tritt ans Bett und hebt vorsichtig die Bettdecke hoch. Brogeland sieht Stefan nackt wie am Tag seiner Geburt.
    »Ich habe noch nie gehört, dass sich jemand auszieht, bevor er Selbstmord begeht.«
    »Das ist nicht sehrgewöhnlich, nein, da hast du recht.«
    »Außerdem finde ich seine Haltung seltsam.«
    »Wieso?«
    »Guck doch mal. Er hat sich ganz an die Wand gepresst.«
    »Was ist daran so ungewöhnlich? Liegst du mitten in deinem Bett?«
    »Nein, aber hier sieht es fast so aus, als hätte er versucht, in die Wand hineinzukriechen.«
    »Meine Tochter schläft auch so. Die meisten Kinder und wohl auch viele Erwachsene schmiegen sich gern an etwas an. Das muss nicht unbedingt was bedeuten. Vielleicht hat sein Körper auch versucht, sich irgendwie zur Wehr zu setzen.«
    Sandland mustert Stefans toten Körper noch ein paar Sekunden lang, erwidert aber nichts. Danach bewegen sie sich im Raum umeinander und lassen weitere Details auf sich wirken.
    »Wir müssen überprüfen, ob er Depressionen hatte«, fährt Brogeland fort. »Und ob er vielleicht zu einem Psychologen oder Psychiater gegangen ist. Auf den ersten Blick sieht es wie Selbstmord aus, finde ich, es ist aber natürlich auch möglich, dass ihm ein Blutgefäß im Kopf geplatzt oder er an einem angeborenen Herzfehler gestorben ist. Bis auf Weiteres müssen wir es aber als verdächtigen Todesfall einstufen. Rufst du den diensthabenden Staatsanwalt an? Wir müssen den Tatort absperren und die Spurensicherung herbestellen.«
    Sandland nickt, zieht sich die Plastikhandschuhe aus und nimmt ihr Handy heraus.

56
    Als er die Tür hinter sich zugemacht hat, merkt Henning, dass jemand in seiner Wohnung gewesen ist. Es riecht anders. Etwas Herbes liegt in der Luft, vermischt mit leichtem Schweißgeruch. Ohne das Licht einzuschalten, geht er langsam hinein. Zuerst in die Küche und dann ins Wohnzimmer. Er bleibt stehen und lauscht. Der Wasserhahn im Bad tropft. Draußen fährt ein Auto durch eine Pfütze. Weit entfernt ruft jemand etwas, das er nicht versteht.
    Nein, denkt er. Es ist niemand mehr hier. Andernfalls müsste dieser jemand vollkommen regungslos irgendwo stehen und keinen Laut von sich geben. Die Bestätigung, dass jemand da war, erhält er, als er sich im Wohnzimmer umsieht. Sein Laptop, der sonst immer auf dem Tisch steht, ist verschwunden.
    Er geht auf die leere Stelle zu, als ob seine Schritte das Gerät wieder herzaubern könnten. Rasch überlegt er, ob irgendetwas von Wert auf seiner

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