Sterblich
sie gerade gesagt hat.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Haben Sie das Drehbuch nicht gelesen?«, fragt sie.
»Aber ja.«
»Dann liegt es doch auf der Hand.«
Mehr sagt sie nicht. Er denkt nach.
»Familie Foldvik ist Familie Gaarder. Im Drehbuch.«
Er formuliert das halb als Frage, halb als Feststellung. Anette nickt.
»Hatte Yngve ein Verhältnis mit Henriette?«
Anette sieht sich wieder um, dann nickt sie. Ihr Blick ist ernst.
»Stefan scheint das rausgekriegt zu haben.«
»Wie?«
»Ich weiß es nicht genau. Vielleicht hat er zu Hause das Drehbuch gefunden oder es auf dem PC seines Vaters gelesen. Ich habe keine Ahnung.«
»Yngve hat das Drehbuch doch noch nicht gehabt«, sagt Henning. Anette sieht ihn an.
»Hat er Ihnen das erzählt?«
»Ja«, gibt er beschämt zu, während ihm aufgeht, dass Foldvik ihn ohne Weiteres belogen haben könnte. »Hat niemand sonst von der Schule das Drehbuch gelesen?«
»Nein.«
»Auch kein Schauspieler oder Statist?«
»Wir wollten die Rollen selbst spielen, und wir wollten nur die erste Szene abdrehen. Der Rest sollte irgendwann im Herbst aufgenommen werden. Darum haben wir das Drehbuch noch niemandem gezeigt.«
Er nickt und denkt weiter nach. Yngve hat gelogen. Er hat das Drehbuch bekommen. Das ist die einzige logische Erklärung, die Henning einfällt, wie sonst hätte Stefan an die Kopie kommen können. Yngve war vermutlich klar, dass der Seitensprung über kurz oder lang ans Licht kommen würde, weshalb er beschlossen hat, seiner Familie davon zu erzählen. Vielleicht hat Stefan danach das Drehbuch unter den Sachen seines Vaters gefunden. Oder darum gebeten, es lesen zu dürfen.
Dann könnte Anettes Behauptung, dass Stefan der Täter ist, stimmen. Er hat Henriette umgebracht, weil sie seine Familie zerstört hat und sie gar noch mehr demütigen wollte, indem sie einen Film darüber macht. Aber Stefan ist tot, ob er es nun selbst getan hat oder ermordet worden ist. Und das verändert einiges, denkt Henning. Aber wer könnte ein Interesse daran gehabt haben, Stefan zu töten? Es gibt sicher viele Gründe, weshalb junge Männer sich das Leben nehmen, Gründe, die nicht das Geringste mit Scharia-Kaste oder Henriette oder Yngve zu tun haben müssen. Außerdem gibt es noch eine Variante, der er bisher keine nähere Beachtung geschenkt hat: Möglicherweise ist Stefan ja eines natürlichen Todes gestorben.
Das Chaos in seinem Kopf wird immer größer. Er weiß, dass er nicht mit Anette darüber reden sollte, aber mit wem sonst. Es ist niemand da, an dem er seine Ideen ausprobieren könnte, jetzt, da sie von allen Seiten auf ihn einstürmen.
»Habt ihr das Drehbuch irgendwann mal mit Yngve besprochen?«
»Henriette sicher, aber ich war bei keinem Treffen dabei, wenn Sie das meinen.«
»Glauben Sie, dass sie über die Gaarder-Sache gesprochen haben?«
»Keine Ahnung.«
»Ganz schön gewagt, seinen eigenen Liebhaber auf diese Weise vorzuführen.« Wieder dieses Zwischending zwischen Frage und Feststellung. Anette stößt Luft durch die Nase aus.
»Sie glauben, dass Yngve es getan hat?«
»Nicht unbedingt.«
»Sie kennen Yngve nicht. Er ist ein Weichei.«
»Aber ein Weichei, das Henriette geholfen hat, eine Option für ihren Film zu bekommen?«
Anette lächelt. Es ist das erste Mal, dass er sie lächeln sieht.
»Ja. Das war wohl auch der Grund dafür, weshalb Henriette ihn rangelassen hat, denke ich.«
»Es ist also nur einmal passiert? Keine richtige Affäre?«
Sie schüttelt den Kopf und unterdrückt ein Lachen.
»O nein.«
Anette geht nicht weiter darauf ein, und er lässt es auf sich beruhen. Schließlich arbeitet er nicht für die Klatschpresse.
»Hat ihr Freund davon gewusst?«
»Mahmoud? Das glaube ich nicht.«
»Was glauben Sie, wie hätte er auf den Film reagiert? Glauben Sie nicht, dass er gedacht hat, dass Mona alias Henriette ihm vielleicht auch im wirklichen Leben untreu war? Das meiste andere stimmte ja auch mit der Wirklichkeit überein?«
»Ich weiß nicht«, antwortet Anette. »Das spielt doch jetzt keine Rolle mehr.«
»Aber hat Henriette das nicht bedacht, als sie das Drehbuch geschrieben hat? Habt ihr nicht darüber diskutiert?«
»Na ja, wir …«
Sie steht da und denkt nach, kommt aber zu keinem erschöpfenden Ergebnis.
»Henriette hat es keine Probleme bereitet, ihren Freund als Modell für einen Typen heranzunehmen, der nach Strich und Faden über den Tisch gezogen wird? Wie würde Ihnen das gefallen, wenn Ihr Freund das mit
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