Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
Kapitel 1
Auch in dieser Nacht träumte er wieder von seinem Sohn. Es begann wie immer: Gesichter, zu Grimassen verzerrt, wirbelten in einem rasenden Kaleidoskop des Schreckens um ihn herum; er hörte sinnlose Laute, spürte die Hitze von Flammen, schmeckte den puren Geschmack von Gewalt, von Schmerz und unendlich viel Leid, das er über die Menschen und die Welt gebracht hatte, ohne es auch nur zu ahnen.
Er träumte diesen Traum seit einem Jahr, nicht jede Nacht, nicht einmal regelmäßig, aber doch mit bestürzender Häufigkeit, und auch das Wissen, nur einen Traum zu erleiden, nahm diesem rein gar nichts von seinem Schrecken.
Vielleicht, weil er zugleich auch wusste, dass es eben nicht nur ein Traum war, sondern die Erinnerung an schreckliche Dinge, die er niemals getan und niemals erlebt hatte und die doch wahr waren.
Heute jedoch war etwas anders. In dem Traum, den er jetzt träumte, hatte der Schrecken ein Gesicht. Es war das Antlitz eines weißhaarigen Jünglings mit den Zügen eines Engels und den brennenden Augen eines Dämons, die er in Wahrheit nie gehabt hatte, in diesem Traum aber höllische Wahrhaftigkeit erlangten.
Er war wieder im Borsatal und der Bauernburg, die zum Grab aller geworden war, die er jemals gekannt und geliebt hatte, und wieder hatte er Stunde um Stunde in stummer Verzweiflung dagesessen und um seinen Sohn geweint, bis seine Tränen schließlich versiegten und aus dem Schmerz in seinem Herzen unerbittlicher Hass geworden war.
Irgendwann wurde er sich seiner Umgebung und seiner selbst bewusst und machte sich an die letzte und schrecklichste Aufgabe dieses Tages, nämlich die, den Leichnam seines Sohnes zu begraben. Von Männern zu Tode gefoltert, die er nicht kannte, um für etwas bestraft zu werden, von dem er nicht einmal wusste, dass er es getan hatte.
Er begrub ihn tief, damit sich keine Tiere an ihm vergingen (hatte er damals ein Kreuz auf seinem Grab aufgestellt? Es war so lange her, dass er sich nicht mehr daran erinnerte, aber in diesem grässlichsten aller Nachtmahre tat er es), und ging dann zu seinem Pferd, um diesen Ort des Schreckens zu verlassen und sein Leben fortan der Rache zu widmen. Und an dieser Stelle dann zeigte der Traum, was vielleicht gewesen war, er aber niemals erlebt hatte.
Auf halbem Wege hörte er ein Geräusch und blieb noch einmal stehen, um sich umzudrehen, und obwohl er diesen Moment schon hundertfach durchlitten hatte, spürte er auch jetzt zuerst nichts als blankes Entsetzen, als er sah, wie sich das schlichte Holzkreuz zur Seite neigte und hob, gehalten von einer bleichen Kinderhand, die aus dem Grab emporwuchs. Es folgten ein Arm, eine Schulter und schließlich ein schmales Gesicht, umrahmt von schmutzigem weißem Haar. Unzählige Male hatte er diesen Augenblick durchlebt, und doch schlug sein Herz auch jetzt wieder in maßlosem Entsetzen bis in seine Schläfen und die Fingerspitzen.
Und doch war der Gipfel des Schreckens noch nicht einmal erreicht. Er wusste zwar, was kommen würde, aber auch, dass ihm dieses Wissen keinen Schutz vor dem Grauen bieten konnte, zu dem der Traum ihn führte.
Langsam, unendlich mühevoll, aber auch mit der Unaufhaltsamkeit eines Albtraumes arbeitete sich der tote Junge aus dem Grab heraus, in das er ihn mit eigenen Händen gelegt hatte. Feuchtes Erdreich und Schmutz klebten an seiner Haut. Doch das verdeckte die schrecklichen Wunden nicht, die seine Folterknechte ihm zugefügt hatten, sondern schien sie ganz im Gegenteil nur noch zu betonen.
Er machte einen Schritt auf seinen wiederauferstandenen Sohn zu, der niemals gestorben war, dann verweigerten ihm seine Muskeln den Dienst. Ein unsichtbares eisernes Band legte sich um seine Brust und seine Kehle, schnürte ihm den Herzschlag und dann den Atem ab, bis er nur noch Entsetzen und alles verzehrende Schuld empfand. Er wusste, was nun kam, doch wie hätte ihn dieses Wissen schützen sollen?
Vater.
Der Junge konnte nicht sprechen. Sein Herz schlug nicht. In seinen Adern floss kein Blut mehr. Seine Kehle war verstopft mit der weichen Erde, mit der er sein Gesicht bedeckt hatte. Aber seine Lippen bewegten sich, erbrachen Schleim und geronnenes Blut.
Warum hast du mir das angetan, Vater?
Wie hätte er es denn wissen sollen? Niemand hatte ihn gewarnt. Niemand hatte ihn auf das vorbereitet, was kam oder was er war, was sein Sohn war. Er hatte es doch nicht gewusst!
Aber wann hätte Unwissenheit jemals Schuld gemildert?
Der Junge kam näher. Er wollte
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