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Sterblich

Sterblich

Titel: Sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Enger
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Reue, wie eine unverrückbare Tatsache. Und Henning weiß, dass er in diesem Moment nicht der einzige Überrumpelte ist.
    »Aber …«
    Ingvilds Stimme ist noch immer ohne Kraft.
    »Ich kann gut verstehen, dass Stefan dachte, es sei Henriette gewesen. Sehen Sie mich an, ich sehe ihr nicht sehr ähnlich. Ihrem Drehbuch nach sollte es ja auch ziemlich klar sein, mit wem er geschlafen hat.«
    Anette sieht zu Yngve, der betroffen zu Boden blickt. Eine Träne läuft über seine Wange. Sein schütteres Haar ist verschwitzt.
    »Und wenn sich jemand aufs Flirten verstand, dann Henriette, die hätte einen Komposthaufen rumgekriegt, hätte sie es darauf angelegt.«
    Alle sehen zu Yngve. Er seufzt und schüttelt den Kopf.
    »Es war nicht leicht, für keinen von uns. Ich meine, nach dem, was mit Ingvild geschehen ist. Auch schon vorher war nicht alles in Ordnung, aber danach, nun ja, danach war es komplett unmöglich, wie Mann und Frau zusammenzuleben. Jedes Mal, wenn ich in deine Nähe kam, bist du vor mir zurückgewichen, erschrocken darüber, wenn ich als dein Mann deine Nähe gesucht habe.«
    Yngve sieht sie an.
    »Physischer Kontakt war ein Fremdwort. Und dann kam Henriette …«
    Er schüttelt wieder den Kopf.
    »Sie war so schön, so voller Energie, klug, und ja, sie hat geflirtet. Ich will nicht leugnen, dass das bei mir gewisse Fantasien geweckt hat, Fantasien, die ich lange nicht mehr gehabt hatte. Aber ich wollte mein Vertrauen zu ihr nicht zerstören. Ich war schließlich ihr Fachbetreuer, da konnte ich doch nicht …«
    Foldvik sieht sie der Reihe nach an. Seine Augen bleiben an Anette hängen. Henning erkennt die Reue in Foldviks Blick.
    Anette tritt einen Schritt vor. Auch sie ist durchnässt. Henning fragt sich, was sie bewogen hat umzukehren. Er versteht ihre Neugier, aber warum musste sie diese Bombe platzen lassen?
    Um die Dinge ins rechte Licht zu rücken wahrscheinlich. Wenn Ingvild ihren Mann in der Annahme getötet hätte, er habe Sex mit Henriette gehabt, würde die Wahrheit – wenn sie denn später herauskäme – Ingvild vollends zerstören. Wie kann man mit der Gewissheit weiterleben, dass der eigene Sohn die falsche Frau getötet hat und man selbst seinen Ehepartner, weil dieser schuld an dem falsch verstandenen Wahnsinn war, der sich in das Leben ihres Sohnes geschlichen hatte? Ingvild sieht aus, als wäre alles Leben aus ihr gewichen. Ihre Schultern hängen schlaff nach vorn, der Rücken ist krumm, und die Augen sind gerötet. Henning sieht Anette an. Sie ist cleverer, als er gedacht hat.
    »Es tut mir leid, Ingvild«, fährt Anette fort. »Ich wollte nie, dass das passiert, aber es ist einfach geschehen. Ich rannte damals schon lange mit einer Geschichte im Kopf herum, hatte auch eine recht gute Storyline zu Papier gebracht, die ich Yngve zeigen wollte. Ich wusste ja, dass er Henriette zu der Filmoption verholfen hatte, und hoffte natürlich, dass er mich auch unterstützen würde. Es waren ein paar Bier im Spiel, das will ich nicht leugnen, und wir gingen zum Reden in sein Büro …«
    »Anette, nicht …«
    Yngve schließt die Augen.
    Anette hebt die Hände.
    »Nein, mehr sage ich ja gar nicht. Ich will einfach nur um Entschuldigung bitten. Für alles, was ich Ihnen angetan habe. Hätte ich gewusst, wozu das führt …«
    Sie will den Satz zu Ende bringen, hält aber inne. Sie weint jetzt auch. Dann macht sie einen Schritt auf Ingvild zu, beugt sich zu ihr und legt ihr eine Hand auf den Rücken. Im gleichen Augenblick schießt Ingvilds Arm nach vorn. Henning sieht es erst, als es zu spät ist und sie das Handy an Anettes Hals drückt. Zzzzzt . Anette wird zurückgeschleudert und landet im Gras. Er will sich auf Ingvild stürzen, sie aufhalten, daran hindern, ihren Hass neuerlich an Anette auszulassen, die bewusstlos mit dem Gesicht nach unten auf der Erde liegt. Aber Ingvild hebt die Hände und richtet sich auf. Sie sagt nichts, starrt nur abwesend vor sich hin und lässt das Handy fallen. Es landet direkt neben Anette.
    »Jetzt können Sie die Polizei anrufen«, sagt Ingvild leise zu ihm. Ihr Blick ist verschleiert, leer. Henning bleibt stehen und sieht sie an, lange, ehe er sein Handy aus der Jackentasche nimmt, das Display abtrocknet und überprüft, ob es überhaupt noch funktioniert.
    Dann ruft er Bjarne Brogeland an.

66
    Wenig später trifft Brogeland mit einer Gruppe Polizisten beim Zelt ein. Henning erkennt Ella Sandland wieder. Er rechnet fast damit, Arild Gjerstad ins Zelt treten

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