Sterblich
Küchenecke. Henning macht einen Schritt nach hinten, um nicht über den Haufen gerannt zu werden. Hinter Kåres Rücken sieht er Heidi vorbeilaufen. Sie sieht zu ihnen herüber, macht aber keine Anstalten zu kommen.
»Hast du Ivers Artikel gesehen?«, ruft Kåre.
»Ähm, nein?«
»Er ist als Erster mit der ganzen Hagerup-Story raus! Steinigung und alles, was dazugehört! Vor Kurzem muss ein Showdown in dem Zelt auf dem Ekeberg stattgefunden haben! Verdammt! Die Leserzahlen schießen schier IN DEN HIMMEL! Verdammt, VERDAMMT! «
Kåre lacht laut, ehe er Henning kräftig auf die Schulter schlägt.
»Kommst du nachher mit, was trinken? Das muss gefeiert werden!«
Henning zögert mit der Antwort.
»Komm schon, ist doch Freitag, verdammt noch mal!«
»Kommt Iver auch mit?«
Nicht, dass das wirklich eine Rolle spielt, aber er will es trotzdem wissen.
»Nein, er hat später am Abend noch einen Termin bei 1730 von P4. Muss sich nüchtern halten. Und danach ist dann noch irgendeine Talkshow im Fernsehen, hab vergessen, welche, he he.«
In dem Augenblick kommt Gundersen von der Toilette. Er wischt sich die feuchten Hände an der abgetragenen, leicht schmuddeligen Jeans ab, hält aber mitten in der Bewegung inne, als er Henning entdeckt. Sie bleiben voreinander stehen und sehen sich an. Kåre brüllt irgendetwas, das Henning nicht versteht. Er sieht Gundersen an, der ihm zurückhaltend zunickt. Aus seinen Augen spricht Dankbarkeit mit einer merkwürdigen Mischung aus Respekt und Verwunderung.
»Ein andermal«, sagt Henning zu Kåre. »Ich habe schon eine Verabredung.«
»Ach je!«, ruft Kåre. »Wie schade!«
Gundersen geht an ihnen vorbei, ohne etwas zu sagen. Seine Augen flackern, und er kratzt sich über die Bartstoppeln. Henning grinst inwendig.
»Ich muss los«, sagt er und sieht Kåre an.
»Okay! Bis Montag dann!«
Es kommt ihm kälter vor, als er wieder draußen ist, unbarmherziger. Er schlingt die Jacke fester um sich, geht auf die schwarze Eingangstür zu und überlegt, wo das nächste Vinmonopol ist, als er hinter sich eine Stimme hört.
»Juul.«
Er dreht sich um. Die Stimme gehört zu einem Mann, den er schon mal gesehen hat. In den Gläsern der Sonnenbrille reflektiert das Licht. Jetzt, da er dicht vor dem Typen steht, sieht er, was Gunnar Goma durch den Spion in seiner Tür gesehen hat. Seine Haare sehen wirklich aus wie auf den Schädel aufgemalt. Er muss an ein außerirdisches Muster in einem Kornfeld denken. Der Mann trägt eine schwarze Lederjacke, vermutlich mit einem Flammenmotiv auf dem Rücken, und um seinen Hals baumelt eine dicke, glänzende Kette.
»Sehen Sie den Wagen da drüben?«, sagt der Mann und zeigt auf ein schwarzes Fahrzeug, das nahe dem Eingang steht. »Sie gehen jetzt dorthin. Wenn Sie um Hilfe rufen oder irgendwelche Dummheiten machen, töten wir Ihre Mutter.«
Henning dreht sich um und geht los, er sieht nach links und rechts, sucht jemandem, dem er zublinzeln oder ein verstecktes Zeichen geben könnte. Der Puls hämmert in seiner Halsschlagader. Seine Füße schlurfen über den Boden, den er überhaupt nicht wahrnimmt.
Was mache ich jetzt?, denkt er.
Der Fahrer starrt Henning an, als er sich dem Wagen nähert. Sein linker Arm hängt lässig aus dem Fenster. Ein Finger ist bandagiert. Gunnar Goma hat gute Augen, denkt Henning, obgleich er von den homophilen Gesten nichts merkt.
»Losfahren«, sagt der Mann, der sich neben Henning auf die Rückbank setzt. Als der Fahrer Gas gibt, wird Henning gegen die Rückenlehne gedrückt. Der Motor schnurrt leise, aber er kann sich jetzt nicht auf Autos, Menschen oder die Umgebung konzentrieren. Er sollte versuchen, jemanden darüber zu informieren, dass er gekidnappt wird, aber was geschieht mit seiner Mutter, wenn sie ihn dabei erwischen? Und mit ihm?
»Wir sind auf dem Weg.«
Der Fahrer spricht in ein kleines Mikrofon. Er hat einen Stöpsel im Ohr.
Was macht man, wenn die Zukunft leer ist? Henning hat sich diese Frage in den letzten Monaten immer dann gestellt, wenn er sich von den Schatten, die ihn zu verschlingen drohten, eingehüllt fühlte. Es gibt keine beruhigenden Worte wie früher, als er klein war. Damals reichte ein Pusten seiner Mutter oder seines Vaters, um ihm die Sicherheit zu geben, dass alles wieder gut werden würde. Es ist nicht schlimm, mach dir keine Sorgen, das geht vorbei. Die Angst aber, die er in diesem Moment empfindet, strahlt eine alles lähmende Kälte aus. Jetzt kann dir nichts mehr helfen,
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