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Sterblich

Sterblich

Titel: Sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Enger
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größer und das Tempo der Anfragen höher wird. Sie müssen zunehmend mehr Zeit auf den Umgang mit der Presse verwenden, was ihnen gar nicht recht ist und den Ermittlungen alles andere als dienlich.
    Nøkleby beendet die Fragerunde, nachdem auch P4 , VG und Aftenposten zu Wort gekommen sind. Damit sind sie aber noch nicht am Ende, denn anschließend fordern Radio- und Fernsehsender Interviews, um ihren Hörern oder Zuschauern das Gefühl von Exklusivität zu vermitteln. Es werden wieder die gleichen Fragen gestellt, sodass Nøkleby erneut die Gelegenheit bekommt, keinen Kommentar zu geben …
    Genau.
    Es ist jedes Mal das gleiche Theater. Die richtige journalistische Arbeit beginnt erst nach der Pressekonferenz. Henning denkt, dass er Iver Gundersen finden muss, um mit ihm zu besprechen, wie sie die Sache angehen sollen.
    Denn Henning ist wieder da.
    Ein Gedanke, der ihm ziemlich seltsam vorkommt.

9
    Einige Journalisten versuchen, noch die eine oder andere Frage anzubringen, werden aber von dem uniformierten Trio brüsk zurückgewiesen. Nach dem Ende der Pressekonferenz strömen die Journalisten nach draußen. Henning ist plötzlich von Menschen umringt, die er nicht so dicht um sich haben will. Jemand schubst ihn von hinten, worauf er die Frau vor sich anrempelt und sich mit bemüht leiser Stimme bei ihr entschuldigt, während er sich nach mehr Raum und größerem Abstand sehnt.
    Draußen in der Halle hält er Ausschau nach Iver Gundersen, was sicher einfacher wäre, wenn er eine Vorstellung hätte, wie Gundersen aussieht. So hat er die Wahl zwischen mindestens fünfzig Journalisten. Henning denkt gerade, dass er am besten Vidar suchen und ihn fragen sollte, als Nora sich plötzlich in sein Sichtfeld schiebt. Und er sich in ihres.
    Er bleibt stehen. Jetzt werden sie es kaum vermeiden können, miteinander zu sprechen.
    Er macht einen zögerlichen Schritt auf sie zu, sieht sie dasselbe tun. Ein paar Meter voneinander entfernt bleiben sie stehen. Er sieht in ein Paar Augen, in denen sich Sätze häufen, die nie ausgesprochen wurden.
    »Hallo, Henning.«
    Ihre Stimme ist wie ein Eishauch. Das »Hallo« geht nach oben, »Henning« nach unten. In seinen Ohren hört sich das an, als würde sie mit einem Wesen reden, das ihr grobes Unrecht zugefügt hat, zu dem sie sich aber dennoch irgendwie verhalten muss. Er erwidert ihr Hallo und kann den Blick nicht von ihr wenden. Sie sieht aus wie immer, doch hinter ihren Augen ahnt er die Trauer, die jeden Moment hervorbrechen kann.
    Nora ist kleiner als die meisten Frauen, versucht das allerdings mit hohen Absätzen zu kompensieren. Sie hat kurze Haare. Kein Knabenschnitt, im Nacken ist es etwas länger, aber die Ponyfransen reichen nicht bis zu den Augen. Früher hatte Nora lange Haare. Die kurzen stehen ihr aber. Ihre Augen sind eine Mischung aus Braun und Grau. Als er sie das letzte Mal gesehen hat, war sie blass. Jetzt scheint ihre Haut zu glühen, und er fragt sich, ob das vielleicht etwas mit der Cordjacke zu tun hat. Die Glut kleidet sie.
    Verdammt, diese Glut kleidet sie wirklich.
    Noras Gesicht beherbergt viele Persönlichkeiten. Hat sie Angst, öffnet sich ihr Mund, und ihre Zähne werden sichtbar. Wenn sie wütend ist, hebt sie die Augenbrauen, dann legt ihre Stirn sich in Falten, und ihre Lippen werden schmaler. Und wenn sie lächelt, ist ihr ganzes Gesicht dabei, es öffnet sich, und man kommt nicht umhin, sich mit ihr zu freuen. Schon seltsam, wie die Dinge sich ändern, denkt er. Es gab einmal eine Zeit, in der er sich nicht vorstellen konnte, ohne sie zu leben. Inzwischen wäre es schwierig, mit ihr zu leben.
    » Du hier?«, sagt er, unfähig, seine Nervosität zu verbergen. Sie schnürt ihm den Hals zu.
    »Ja«, antwortet sie nur.
    »Nicht mehr bei der Wirtschaft?«
    Sie bewegt den Kopf, zuerst nach links, dann nach rechts.
    »Ich brauchte etwas Neues nach …«
    Sie hält inne, und er ist froh, dass sie den Satz nicht zu Ende bringt. Er würde gern zu ihr gehen, sie umarmen, schafft es aber nicht, den Gedanken in die Tat umzusetzen. Zwischen ihnen steht eine unsichtbare Wand, die nur Nora einreißen kann.
    »Du bist also zurück?«, sagt sie.
    »Mein erster Tag«, erwidert er und versucht sich an einem Lächeln. Sie studiert seine Gesichtszüge, besonders die Narben, die die Flammen in die Haut gefressen haben, und scheint zu denken, dass das noch nicht genug ist. Wenige Meter hinter ihr entdeckt er die Cordjacke. Er beobachtet sie. Hoffentlich bist du

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