Sterblich
Erscheinung treten musste. Trotzdem war die Skepsis, die er Bjarne gegenüber empfand, nie mehr gewichen.
Jetzt war Bjarne also bei der Kripo.
Eigentlich hätte er das ahnen können, hatten sie sich doch beide Mitte der Neunzigerjahre auf der Polizeischule beworben. Während Bjarne aufgenommen worden war, hatten sie Henning dank seines schon seit Kindertagen anhaltenden Asthmas und seiner zahlreichen Allergien – von Hundehaaren bis Heuschnupfen – ganz früh aussortiert. Bjarne war ein körperlich robuster Typ. Er sah gut aus, war stark und ausdauernd. Als Junge hatte er Leichtathletik betrieben und war kein schlechter Siebenkämpfer gewesen. Henning glaubt sich daran zu erinnern, dass Bjarne es im Stabhochsprung auf vier Meter fünfzig brachte.
Dass Bjarne jetzt im Dezernat für Gewaltverbrechen arbeitet, ist neu für Henning. Früher war er als Fahnder oder verdeckter Ermittler tätig. Vielleicht brauchte er ja einen Tapetenwechsel, denkt Henning. Jetzt sitzt er oben auf dem Podium und blickt über die Versammlung. Seine Miene ist ernst, professionell, und die stramm sitzende Uniform steht ihm. Sicher macht er noch immer Eindruck bei den Frauen, vermutet Henning. Dunkle, kurz geschnittene Haare, graue Schläfen, ein Grübchen im Kinn, weiße Zähne. Sonnengebräunt und glatt rasiert.
Bjarne Eitel. Henning denkt an eine potenzielle Quelle, auf die er hinarbeiten sollte.
Der zweite Mann auf dem Podium ist Arild Gjerstad. Er ist groß und schlank und trägt einen gepflegten Bart, über den er sich immer wieder mit den Fingern fährt. Gjerstad war schon bei der Mordkommission, als Henning als Kriminaljournalist angefangen hat, woran sich bis jetzt nichts geändert zu haben scheint. Gjerstad mag keine Journalisten, die sich für schlauer als die Polizei halten, und Henning ist sich, will er ehrlich mit sich sein, im Klaren darüber, dass er genau zu diesen Menschen gehört.
Die Frau, die zwischen den beiden Männern Platz genommen hat, heißt Pia Nøkleby. Sie überprüft, ob das Mikrofon eingeschaltet ist, und räuspert sich. Notizblöcke und Stifte werden gezückt. Henning wartet noch etwas, er weiß ganz genau, dass in den ersten Minuten doch nur einführende Worte fallen und Altbekanntes wiederholt wird. Trotzdem spitzt er die Ohren.
Dann geschieht etwas Überraschendes. Es äußert sich als leichtes Zittern in seinem Körper. Für ihn, der in den letzten zwei Jahren nur noch Wut empfunden hat, Verachtung für sein Tun und Selbstmitleid, ist dieses Zittern – dieses erwartungsvolle, arbeitsbedingte Zittern – etwas, dass Dr. Helge sicher als eine Art Durchbruch bezeichnet hätte.
Wie gebannt lauscht er der hellen Stimme der Frau.
»Ich danke Ihnen für Ihr Erscheinen und begrüße Sie zur heutigen Pressekonferenz in Verbindung mit dem Leichenfund am Ekeberg heute Morgen. Mein Name ist Pia Nøkleby, und an meiner Seite sitzen Ermittlungsleiter Arild Gjerstad und Kriminalkommissar Bjarne Brogeland.«
Gjerstad und Brogeland nicken den Anwesenden kurz zu. Nøkleby hält sich die Hand vor den Mund und räuspert sich, bevor sie fortfährt.
»Wie Sie alle wissen, haben wir nach dem Fund der weiblichen Leiche in einem Zelt am Ekeberg polizeiliche Ermittlungen eingeleitet. Der Fund wurde uns heute früh um 06.09 Uhr von einem älteren Mann gemeldet, der mit seinem Hund unterwegs war. Bei dem Opfer handelt es sich um die dreiundzwanzigjährige Henriette Hagerup aus Slemdal.«
Stifte huschen über Papier. Nøkleby nickt Gjerstad zu, der näher an den Tisch heranrückt und sich zum Mikrofon vorbeugt. Auch er räuspert sich.
»Es handelt sich um vorsätzlichen Mord. Die Tat ist auf sehr spezielle Weise ausgeführt worden. Der Täter ist unbekannt. Wir können zu diesem Zeitpunkt der Ermittlungen noch nicht viel sagen, weder über Funde am Tatort noch über eventuelle Spuren, die wir weiterverfolgen, ich möchte aber klarstellen, dass wir es mit einer außergewöhnlich grausamen, bestialischen Tat zu tun haben.«
Henning notiert sich das Wort »bestialisch«. Typischer Polizeijargon, der nichts anderes heißt, als dass es Details gibt, die die Presse so nicht veröffentlichen darf. Die Bevölkerung soll nicht erfahren, wozu gewisse Täter fähig sind. Sie muss vor dieser Erkenntnis geschützt werden. Und natürlich soll auch vor der Familie nicht ausgebreitet werden, wie ihre Kinder, Geschwister oder Eltern ermordet wurden. Was nicht bedeutet, dass die Medien es nicht wissen.
Die Pressekonferenz bietet
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