Sterblich
würde ich jetzt langsam zu erzählen beginnen, was gestern Abend zwischen Ihnen passiert ist.«
Marhoni macht keine Anstalten, etwas zu sagen. Brogeland seufzt und blickt auf seinen Zettel.
»Ich verspreche dir, ich mache das wieder gut. Bitte – gib mir noch eine Chance!«
Marhoni schüttelt jetzt den Kopf.
»Kommissar, ich glaube …«
»Nach der zweiten SMS haben Sie sie angerufen. Aber sie ist nicht ans Telefon gegangen, nicht wahr?«
Brogeland ist zunehmend genervt von dem Schweigen des Verdächtigen.
»Kannst du mir nicht antworten? Bitte! Ich tue das auch nie wieder! Versprochen!«
»Das war die dritte SMS , die kam zwölf Minuten später.«
Marhoni blickt zu Boden.
»Was wollte sie nie wieder tun, Marhoni? Was hat sie Ihnen angetan, dass Sie jetzt da sitzen und den Blick nicht heben und es mir sagen können?«
Keine Reaktion.
»Und wer ist er ?«
Marhoni hebt die Augen, sieht Brogeland aber nicht an.
»Wer hatte keine Bedeutung für sie?«
Marhoni kneift die Lippen zusammen. Brogeland seufzt.
»Okay. Es ist nicht meine Entscheidung, aber ich denke, Sie werden heute noch dem Haftrichter vorgeführt werden. Wäre ich Ihr Strafverteidiger, würde ich jetzt vermutlich damit anfangen, Sie mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass Sie die nächsten fünfzehn bis zwanzig Jahre hinter Gittern verbringen müssen.«
»Ich habe sie nicht getötet.«
Die Stimme ist leise, aber Brogeland steht bereits auf, beugt sich vor und legt den Finger auf den Schalter des Aufnahmegeräts.
»Das Verhör wird beendet. Es ist 15.21 Uhr.«
14
Es hat angefangen zu regnen. Henning mag Regen. Er liebt es, nass zu werden, wenn er draußen unterwegs ist, liebt es, den Blick zu heben, die Augen zu schließen und die Regentropfen auf seinem Gesicht zu spüren. Er kann nicht verstehen, warum man einen guten Regen kaputt macht, indem man einen Schirm aufspannt.
So ein kurzer Regenschauer passt gut. Damit lässt sich wunderbar demonstrieren, dass sie sich von ein bisschen Regen im Augenblick der Trauer nicht stören lassen. Vielleicht ist ja genau in diesem Moment eine Kamera auf sie gerichtet, sodass sie noch in die Abendnachrichten kommen. Was gibt es da Stimmigeres, als wenn sie klatschnass dastehen, bedeckt von Tränen von oben, als trauerte Gott persönlich um eines seiner Kinder.
Er knipst. Schießt mit der Serienaufnahme seiner Canon drei Bilder pro Sekunde und sieht die hübsche Bilderserie in der Zeitung schon vor sich. Dabei hat er es nicht auf die Weinenden abgesehen, sondern auf die, die einfach nur still und in sich gekehrt dastehen.
Er geht auf einen Jungen mit kurzen Haaren zu – kein Zeichen von Bartwuchs, tief über den Hintern hängende Hose, Björn Borgs Logo gut sichtbar über dem Hosenbund –, der gerade von einem Mann interviewt wird, den Henning von VG zu kennen glaubt. Petter Stanghelle. VG liebt Tränen.
Der weinende Junge erzählt davon, wie gut Henriette Hagerup war, was für ein großes Filmtalent Norwegen verloren hat und und und … reines Tränendrüsengedrücke. Henning geht vorbei, sorgsam darauf bedacht, einen Bogen um die Kameralinsen zu machen, während er die Hysterie um sich herum beobachtet.
Da sieht er sie und macht schnell ein Foto von ihr. Sie steht wie aus dem Nichts gekommen vor dem Baum, liest die Beileidsbekundungen und schaut zwischendurch zu Boden. Dann schüttelt sie fast unmerklich den Kopf, bevor sie den Blick wieder hebt. Er ist nicht sicher, ob er auch nur eins der geschossenen Fotos verwenden wird.
Das Mädchen hat dunkles, schulterlanges Haar. Er knipst weiter, kann ihren Gesichtsausdruck aber nicht ganz deuten. Sie scheint sich in ihrer eigenen Welt zu befinden. Aber irgendetwas ist mit ihren Augen. Er nähert sich ihr, stellt sich fast neben sie und tut so, als würde auch er die Karten lesen, die sich unter so viel gekünstelter, geballter Tristesse fast biegen.
»Schrecklich«, sagt er, gerade so laut, dass sie es hören kann. So, dass sie es sowohl als Aussage als auch als eine Einladung zum Gespräch interpretieren kann. Das Mädchen reagiert nicht. Sie scheint es nicht zu merken, als er sich noch einen Schritt näher an sie heranschiebt. Dort bleibt er erst einmal stehen, lange. Seine Haare werden allmählich nass. Er bedeckt die Kamera, damit nicht auch sie feucht wird.
»Kannten Sie sie gut?«, fragt Henning und wendet sich zum ersten Mal direkt an sie. Er sieht sie kurz nicken.
»Ist sie in Ihre Klasse gegangen?«
Sie sieht ihn an. Er erwartet,
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