Sterblich
seiner Eltern immer geschlossen. Jetzt glitt sie auf. Der Vater lag da, die Hände auf der Decke. Die Augen geschlossen. Er sah ganz entspannt aus. Seine Mutter schlief noch. Henning sah auf die Bettseite, auf der sein Vater lag. Es sah aus, als würde auch er schlafen. Als Henning ihn anstupste, rührte er sich nicht. Dann tippte er ihn noch einmal an, dieses Mal fester.
Als seine Mutter wach wurde, war sie im ersten Moment erschrocken und wollte wissen, was um alles in der Welt er da machte. Dann sah sie ihren Mann an – und schrie.
Danach kann Henning sich nicht mehr an viel erinnern. Nur an den Geruch von Öl. Selbst tot roch Jakob Juul nach Öl.
Nach dem Frühstück, zwei Tassen Kaffee mit drei Löffeln Zucker, beschließt er, zur Arbeit zu gehen. Es ist erst halb sechs, aber er denkt, dass es wenig Sinn hat, zu Hause zu hocken und sich in Selbstmitleid zu ergehen.
Er denkt ans Meer, als er in die Urtegata einbiegt. Er sollte müde sein, aber der Kaffee hat ihn aufgeputscht. Sølvi ist noch nicht da, aber er sieht sie vor sich, als er die Schlüsselkarte benutzt.
Nur ein einziger Mensch ist in der Redaktion. Der Nachtchef vom Dienst hängt halb über der Tastatur und nippt an einer Tasse Kaffee. Henning nickt ihm kurz zu, als ihre Blicke sich begegnen, aber der Mann wendet sich gleich wieder seinem Bildschirm zu.
Henning setzt sich auf seinen Platz und lehnt sich in dem knarrenden Stuhl zurück. Er ertappt sich bei der Frage, wann Iver Gundersen wohl morgens zur Arbeit kommt, frisch gevögelt und gut gelaunt, und ob es ihm anzusehen ist, wenn Nora ihm ein Andenken für den Tag mitgegeben hat.
Plötzlich kann Henning schwören, ihren Duft im Raum wahrzunehmen. Ein Hauch von Kokos auf warmer Haut. Er erinnert sich nicht mehr, wie die Creme hieß, die sie mit Vorliebe benutzte und die er so an ihr geliebt hat. Aber in diesem Moment duftet es nach Kokos. Er dreht sich um, richtet sich halb auf und sieht sich um. Er ist mit dem Chef vom Dienst allein. Trotzdem duftet es nach Kokos. Dass er aber auch nicht mehr weiß, wie diese Creme hieß!
Der Duft verpufft ebenso schnell, wie er aufgetaucht ist. Er sinkt zurück auf den Stuhl.
Meer, Henning, sagt er zu sich selbst. Denk ans Meer.
22
Research ist ein schönes Wort. Es gibt dieses Wort sogar als Berufsbezeichnung. Researcher. Jede Fernsehserie hat einen, und in den Fernsehredaktionen sind sie auch vertreten. Manchmal sogar gleich mehrere davon.
Henning nutzt die Zeit, bis der Rest des Hauses aufwacht, um ein wenig Research zu betreiben. Diese Arbeit ist wichtig, vielleicht sogar die wichtigste, die ein Journalist machen kann, wenn es keinen anderen, konkreten Auftrag gibt. Suchen, suchen, suchen. Nicht selten tauchen die seltsamsten und wichtigsten Details in den erstaunlichsten Artikeln und Übersichten auf.
Er erinnert sich noch gut an einen Fall vor ein paar Jahren. Er war damals noch ein Anfänger gewesen, hatte vielleicht über zehn Mordfälle berichtet, als ein Pastor, Olav Jørstad, auf dem Meer an der Südküste verschwand. Es war weithin bekannt, dass Jørstad gerne fischte und sich auf dem Meer auskannte und nicht zu denen gehörte, die bei schlechtem Wetter rausfuhren. Dennoch wurde sein Boot eines Tages kieloben gefunden. Jørstad selbst blieb für immer verschwunden. Alles deutete auf ein Unglück hin. Vermutlich hatte die Strömung ihn aufs offene Meer hinausgetragen.
Henning arbeitete damals für Aftenposten und lieferte ein Standardpaket ab. Er interviewte Nachbarn, Freunde und Gemeindemitglieder, ja fast die ganze Südküste. In Übereinstimmung mit seinem Chef blieb er noch einen Tag länger vor Ort, weil er das Gefühl hatte, dass nicht alle Informationen, die er über Jørstad erhalten hatte, wirklich zusammenpassten. Die Gemeindemitglieder beschrieben ihn als einen guten Pastor, einen fantastischen Seelsorger voller Charisma und Überzeugungskraft. Einen Meister der Zunge. Ein Interviewter gab sogar an, von ihm geheilt worden zu sein, was Henning aber in keinem seiner Artikel erwähnte. Da wollte offenbar jemand um jeden Preis in die Zeitung kommen.
Ein Aspekt aber, den niemand wirklich beachtet hatte, war Jørstads Tätigkeit als Chorleiter und Dirigent. Olav Jørstad legte großen Wert auf Disziplin, und sein Chor war gut. Ein paar Tage nach seinem Verschwinden – das Interesse der andern Medien hatte sich inzwischen gelegt – saß Henning eine Weile mit Jørstads Sohn Lukas zusammen. Ganz zufällig begannen sie, über den
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