Sterblich
in den Sommern in der beengten Hütte. Aber es war schön dort. Gemütlich. Sie fingen Krebse, badeten, spielten Fußball auf dem großen Feld auf dem Campingplatz, kletterten über die glatten Felsen, lernten schwimmen, grillten Würstchen und machten abends am Strand Feuer.
Zeit der Unschuld. So hätte es immer weitergehen sollen.
Er fragt sich, ob Trine auch manchmal an diese Sommer denkt.
Dann gehen seine Gedanken zur Scharia. Allah-u-akbar. Und er erinnert sich an das, was Zahid Mukthar, der Leiter des Islamischen Rats in Oslo, 2004 gesagt hat.
Als Muslim untersteht man islamischem Gesetz, und für Muslime steht die Scharia über jedem anderen Gesetz. Keine andere Auslegung des Islam ist möglich.
Henning führte unmittelbar danach ein Interview mit einer Sozialanthropologin vom Christian-Michelsen-Institut, und sie erklärte ihm, dass die meisten Menschen im Westen eine verzerrte Vorstellung von der Scharia hätten. Während es jahrtausendealte Traditionen und eine gewisse Einigkeit darüber gibt, wie Gottes Gesetze gedeutet werden müssen, gibt es die Scharia nicht als eindeutig formuliertes Regelwerk. Was richtig und was falsch ist, wird immer wieder neu von religiösen Gelehrten formuliert, die den Koran und die Hadith-Texte deuten, und jeder legt sie anders aus, je nachdem, von welcher Kultur er geprägt ist. Die meisten Menschen, zumindest in Norwegen, denken an Scharia, wenn sie von Todesstrafe in einem islamischen Land hören. Und diese Unwissenheit wird bewusst ausgenutzt.
Die Sozialanthropologin, deren Namen er sich nicht merken konnte, zeigte ihm eine norwegische Internetseite, auf der die Scharia-Gesetze angeblich punktgenau aufgeführt waren, so wie die Strafen für Verstöße gegen diese Gesetze.
»Das ist zu vernachlässigen«, sagte sie und zeigte auf das Bild auf dem Bildschirm. »Nur wenige Menschen haben das Bedürfnis, auf diese Weise zusammenzufassen, was Scharia ist. Nur ein Ungelehrter kann auf die Idee kommen, so eine Seite zu erstellen. Es werden äußerst dehnbare Begriffe verwendet, um Macht und Einfluss zu bekommen. Die meisten wissen nicht, dass die Hadd-Strafen im Koran kaum vorkommen, darum meinen auch einige Gelehrte, dass man die Hadd-Strafen vielleicht gleich zu Grabe tragen sollte.«
Henning erinnert sich, wie sehr ihn das Interview damals beeindruckt hat, weil es an seinen eigenen Vorurteilen gegenüber Islamisten und nicht zuletzt der Scharia kratzte. Nichtsdestotrotz stößt er auf mehrere Unstimmigkeiten, wenn er an die Hadd-Strafen denkt und sie mit dem Mord an Henriette Hagerup in Verbindung bringt. Sie war keine Muslimin. Sie war nicht einmal mit einem Muslim verheiratet, und soweit er weiß, hat sie auch nichts gestohlen. Trotzdem ist ihr eine Hand abgehackt worden.
Er schüttelt den Kopf. Vor ein paar Jahren wäre er vielleicht in der Lage gewesen, einen logischen Zusammenhang zwischen diesen Punkten herzustellen, doch im Augenblick ist er überzeugt davon, dass das alles keinen Sinn ergibt. Und genau das ist das Problem. Denn es gibt immer einen Sinn. Es kommt nur darauf an, den gemeinsamen Nenner zu finden.
21
Seine Wohnung hat etwas von einer Garage. Dabei mag er keine Garagen. Er weiß nicht wieso, aber sie erinnern ihn an Autos im Leerlauf, verschlossene Türen, schreiende Familien.
In der Garage der Familie Juul in Kløfta lagen längst ausrangierte Autoreifen, uralte, unbrauchbare Fahrräder, verrostete Gartengeräte, Gartenschläuche mit Löchern, Säcke mit Splitt, Langlaufskier, die keiner benutzte, Farbeimer und Malerpinsel. Obgleich Hennings Vater nie an einem der Autos herumbastelte, das er gekauft hatte, roch es dort drinnen immer nach Autowerkstatt. Nach Öl.
Beim Geruch von Öl muss er noch heute an seinen Vater denken. Er erinnert sich nicht an viel von ihm, wohl aber daran, wie er roch. Henning war fünfzehn Jahre alt, als sein Vater völlig überraschend starb. Er war morgens einfach nicht mehr aufgewacht. Henning weiß noch, dass er an diesem Morgen früh aufstand, weil er später am Tag einen Englischtest schreiben sollte. Er wollte noch die letzten Details pauken, ehe die anderen aufstanden, aber Trine war bereits wach. Sie saß im Badezimmer auf dem Boden, die Knie vor die Brust gezogen, und sagte: Er ist tot.
Sie zeigte auf die Wand, hinter der das Schlafzimmer der Eltern lag. Sie weinte nicht, wiederholte nur: Er ist tot.
Er weiß noch, dass er an die Tür klopfte, obwohl sie nur angelehnt war. Sonst war die Tür zum Schlafzimmer
Weitere Kostenlose Bücher