Ashby House
PROLOG
Im Turmzimmer waren schon immer Menschen verschwunden. Daran hatte sich seit der Erbauung von Ashby House im Jahre 1845 nichts geändert, genauer gesagt: seit seiner Möblierung im Spätherbst desselben Jahres. Kaum, dass ein Schrank, ein Stuhl, ein Tisch, ein Bett, ein Spiegel im Raum waren, schien er Menschen und andere Lebewesen zu verschlucken. Gegenstände blieben von diesem Phänomen unbetroffen – es war eine unumstößliche Tatsache, dass das Zimmer nur an Warmblütern Interesse hatte. Vielleicht waren die Möbel in ihrer Zusammenstellung eine Art Portal? Denn es konnte weder an dem leeren Raum noch an den einzelnen Möbelstücken liegen – sie waren über Jahre und Jahrzehnte immer wieder ausgetauscht worden. Die Ottomane aus Kairo, das elsässische Spinett, der mit zartweißen Intarsien verzierte Sekretär, zuletzt der ovale Spiegel. Dieses prachtvolle Stück mit dem breiten, geschwungenen Goldrahmen war durch eine Jagdlandschaft ersetzt worden, die mehrere Monate das Herrenschlafzimmer verschönert und sich als unbedenklich erwiesen hatte. Im Herrenschlafzimmer war nie jemand verschwunden, ganz im Gegenteil. In manchen Nächten schienen sich Gestalten dort aufzuhalten, was man vom Korridor aus erahnen konnte, wenn man desNachts am Zimmer vorbeieilte und wispernde Geräusche hinter der Tür wahrnahm. Nicht, dass häufig jemand den Korridor entlangeilte – schon gar nicht nach Einbruch der Dunkelheit. Ebenso selten wurde jemand allein ins Turmzimmer geschickt, es sei denn, man verfolgte damit einen bestimmten Zweck.
Der verdachterregende Spiegel wurde zunächst in der Empfangshalle deponiert, gegenüber der Holztür mit dem abgenutzten Schloss, das einem Spukhaus alle Ehre machte. Der Schlüssel, der es öffnete, war so groß wie die Handlänge des Dorfschmieds. Verließ man das Haus, steckte man ihn besser in eine große Tasche. Niemand trug den Schlüssel gern in der Hand, denn sobald man sich wenige Schritte vom Haus wegbewegte, schien er eiskalt zu werden und mit einem öligen Film überzogen zu sein. Es konnte der Eindruck entstehen, der Schlüssel entferne sich nicht gerne von seinem natürlichen Umfeld, dem Schloss, was möglicherweise in Zusammenhang stand mit seinem ursprünglichen Standort, der nicht überliefert ist – eine von vielen Geschichten über Ashby House, die dem Vergessen anheimgefallen sind.
Nachdem der Spiegel einige Tage lang der Haustür gegenüber gehangen hatte und weder die Hausbewohner noch ihre Bediensteten verschwunden waren, galt er als sicher. Das erklärte freilich immer noch nicht, aus welchem Grund das Turmzimmer Menschen rückstandslos verspeiste, und rief die beunruhigendsten Spekulationen darüber hervor, was aus ihnen geworden war, wo sie sich nun aufhielten und wie sie sich dort wohl fühlten.
Vielleicht ging die rätselhafte Aktivität des Turmzimmers mit dem Spleen seiner Bauherrin, der früh verwitweten Lady Deborah Ashby einher, mit Stoffen und Materialien zu arbeiten,die über ein Maximum an Geschichte und Geschichten verfügten: Steine aus Ruinen kriegszerfressener Schlösser, verlassener Paläste, verfallener Stadthäuser, Felsbrocken, die – so munkelte man im Dorf – Bestandteile von Dolmen gewesen seien und sicherlich nicht ungestraft hatten entfernt werden dürfen, Türrahmen aus aufgegebenen Abteien, Beschläge aus sämtlichen Ländern des Commonwealth sowie wertvolle Fenstergläser, die das Vestibül im Arbeitszimmer schmückten. Sie seien, so behauptete zumindest Lady Ashbys stets düster gekleideter, wohlgestalteter Stiefbruder Sebastian Branwell, in China hergestellt und von einer Karawane seines Urgroßvaters mütterlicherseits, Hartley Desmond Harrington, auf die Insel gebracht worden. Lady Deborah zweifelte diese Behauptung zwar an, sah sich indes nicht genötigt, den Stiefbruder zu korrigieren, weil sie wusste, wie wichtig ihm die Lüge von der gehobenen Geburt und den abenteuerlustigen Ahnen war. Tatsächlich hatte seine Mutter Christine sich emporgeheiratet (in einem Empire-Kleid, lang bevor es wieder Mode war, Sebastian zeichnete sich schon deutlich auf ihrem Leibe ab), nachdem ihr erster Mann, Sebastians Vater Harvey, einer nicht ungelegen gekommenen Influenza zum Opfer gefallen war. Deborah verzieh ihrem Stiefbruder Sebastian nahezu alles. In ihm hatte sie den perfekten Partner für ihre Experimente gefunden, und dies honorierte sie, indem sie ihm so manche falsche Behauptung durchgehen und ihn in seinen
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