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Sterblich

Sterblich

Titel: Sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Enger
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Aufarbeitung des Geschehenen, dem Verlust eines geliebten Menschen. Sie sollen das Opfer und ihre Freunde richtig kennenlernen.
    Auch von ihm wird dieses Standardpaket erwartet, eigentlich könnte er den Artikel also schreiben, ohne überhaupt hierherzukommen. Da es aber eine Weile her ist, dass er überhaupt etwas geschrieben hat, gibt er sich Mühe, seinen Kopf freizubekommen, um eine gute Frage zu stellen und vielleicht doch mehr als nur Durchschnitt abzuliefern.
    Er entscheidet sich für einen ruhigen Start, beobachtet im Stillen, bevor er sich jemanden aussucht, mit dem er sprechen will.
    Er hat eine ziemlich gute Nase für so was. Schon bald treibt er in einem Strom aus Tränen dahin und wird von einem erstaunlichen Gefühl übermannt.
    Er ist wütend. Wütend, weil die meisten Anwesenden doch gar nicht wissen, was echte Trauer ist. Sie wissen nicht, wie weh es tut, jemanden zu verlieren, den man geliebt hat, jemanden, für den man sich sehenden Auges vor einen Zug werfen würde. Bei vielen erkennt er die Falschheit der Trauer auf den ersten Blick, sie übertreiben, posieren, dankbar für die Gelegenheit, endlich echte Gefühle zeigen zu können. Dabei ist das alles nur künstlich.
    Er versucht, diese Empfindungen abzuschütteln, holt die Kamera heraus und schießt ein paar Fotos. Er tritt dicht an die Menschen heran, fokussiert die Gesichter, die Augen. Er mag Augen. Der Spiegel der Seele und so weiter. In erster Linie aber, weil in ihnen die Wahrheit steht.
    Er zoomt auf den Altar, den die Freunde rechts vom Eingang unter dem großen Baum aufgebaut haben. Drei dicke Stämme sind miteinander zu einem gewaltigen Brokkoli verwachsen. Zweige und Blätter sind schwer. Die Wurzeln des Baums sind mit viereckigen Steinblöcken eingefasst worden.
    Eine gerahmte Fotografie von Henriette Hagerup lehnt an einem der Stämme. Rings um das Bild stehen Blumen, handgeschriebene Karten, Grüße, brennende Teelichter, Bilder von ihr mit Freunden und Kommilitonen auf einem Fest, einem Happening, hinter einer Kamera. Das ist sie, die Trauer, stark verdichtet, wenn auch falsch, aber für eine Titelseite allemal gut genug.
    Er nimmt die Kamera herunter und denkt, dass Henriette Hagerup eine außergewöhnlich hübsche Frau war, eher noch ein Mädchen. Mit ihren weißblonden, mittellangen Locken, der hellen Haut und dem strahlenden Lächeln geht etwas Unschuldiges von ihr aus. Und ungeheurer Charme. Aber er sieht noch mehr, etwas viel Besseres. Intelligenz. Schon diesem Bild kann er entnehmen, dass sie ein kluges Mädchen war.
    Wer war so wütend auf dich?
    Er liest einige der letzten Grüße:
    Wir werden dich niemals vergessen, Henriette
    Ruhe in Frieden
    Johanne, Turid und Susanne
    Ich vermisse dich, Henry!
    Vermisse dich sehr
    Tore
    Es sind zwischen zehn und zwanzig Karten oder Zettel über Trauer und Sehnsucht, der Text lautet auf allen beinahe gleich. Er überfliegt sie uninteressiert, als sein Handy in der Innentasche vibriert. Er holt es heraus und wirft einen Blick auf das Display. Eine unbekannte Nummer. Trotzdem nimmt er das Gespräch an.
    »Hallo?«
    Er geht ein paar Schritte von den anderen weg.
    »Hallo, Henning, hier ist Iver, Iver Gundersen.«
    Noch bevor er etwas sagen kann, spült eine Welle der Eifersucht durch seinen Bauch. Mister Super-Cordjacke. Er ringt sich ein Hallo ab.
    »Wo bist du?«, fragt Gundersen.
    Henning räuspert sich. »In der Schule des Opfers.«
    »Okay. Du, ich rufe an, um dir zu sagen, dass die Polizei bereits jemanden festgenommen hat.«
    Für einen Moment verdrängt er erfolgreich, dass er mit dem neuen Lover seiner Exfrau spricht. Er wird tatsächlich neugierig.
    »Das ging aber schnell. Wer ist es?«
    »Laut meinen Quellen handelt es sich um ihren Freund. Ich habe noch keinen Namen. Aber vielleicht kannst du den von ihren Kommilitonen erfahren?«
    Henning hört die Stimme, kriegt aber nicht wirklich mit, was gesagt wird. Denn in dem Wirrwarr aus Zetteln, Kerzen und Tränen fällt ihm ein Gruß auf, der sich auffallend von der Masse abhebt.
    »Bist du noch da?«
    »Äh, ja. Von ihren Kommilitonen, okay.«
    »Wenn ich es richtig verstanden habe, ist das ein Home Run.«
    »Haben sie Beweise?«
    »Ich glaube schon. Ich schreibe mal einen ersten Artikel, den wir später dann ja noch ausbauen können.«
    »Okay.«
    Gundersen legt auf. Henning steckt das Handy zurück in seine Tasche, ohne seinen Blick abzuwenden. Seine Augen kleben noch immer an der Karte. Er holt die Kamera hervor und macht ein

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