Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
Vom Netzwerk:
Lehrer, seine munter dahinschießende Klasse jetzt ganz außer acht lassend. »Damit aber konzedieren Sie ja selbst, Seigneur, daß es keine Engel gibt. Denn was könnte es geben, das weder der äußeren Welt noch der inneren angehört?«
    »So manches, Herr Lehrer«, entgegnete ich pointiert, »so manches kann es geben, zum Beispiel Gott …«
    »Gut, Gott«, bekannte der Lehrer nach einer Weile, »aber sonst nichts …«
    »Warum sonst nichts«, fragte ich, mich besonders genußvoll zusammenziehend und ausdehnend, »kann Gott etwa nicht eine Protomateria geschaffen haben? Er hat sie sogar sicher geschaffen, Herr Lehrer. Sie ist das, was zwischen ihm und den Worten liegt ›Es werde Licht‹. Sie ist das, was da war, ehe alles da war, was noch da ist. Sehen Sie, Herr Lehrer, sie ist das Geisterreich, zu dem auch die Engel gehören, die nicht im Verzeichnis stehen …«
    Ich glaubte, dem Lehrer mit diesen meinen Worten wenn nicht die Existenz, so doch die Möglichkeit der Existenz von Engeln voll bewiesen zu haben. Er hatte aber meine Ausführungen gar nicht mehr so recht aufgefaßt, denn ein unerwartetes Ereignis – es war eine kosmische Lausbüberei Io-Knirpsens, unseres Turngenies – lenkte seine Aufmerksamkeit plötzlich ab und ließ seine Kopfkugel erbeben vor Zorn.
    Da wir uns auf der Heimfahrt von Petrus Apostel zum Djebel befanden, konnten wir eine der planetaren Umlaufbahnen nicht vermeiden, die unvergleichlich belebter war als alle andern Bahnellipsen, bewegten sich auf ihr nicht nur ein einziges, sondern nach letzter Zählung mehr als elftausend Objekte oder, mit weniger wissenschaftlicher Kaltschnäuzigkeit ausgedrückt, mehr als elftausend echte Wandelsterne. Diese Planeten und Planetchen, die man in den Anfängen der Menschheit »Asteroiden« genannt hatte, entstammten insgesamt dem Zusammenbruch eines großen Planeten zwischen Petrus Apostel und Mars, dem Täuferstern, einem Himmelskörper, dem die Christianisierung des Firmaments den Namen Judas Ischariot verliehen hatte. Es bestand nämlich seit Menschengedenken eine initiierte Auffassung, daß dieser (von der Sonne aus gerechnet) fünfte Planet, der schönste und höchstentwickelte von allen, nicht einfach einem sideralen Verkehrsunfall erlegen sei, sondern bewußt Selbstmord begangen habe, indem er sich der Gefahrenzone einer überlegenen Schwerkraft, der des Apostel Petrus, allzusehr annäherte. Er hatte damit dasselbe getan, was Judas, der Mann aus Karioth auf Hackeldama tat, der Jünger, der Jesum für dreißig Silberlinge verriet und sich darauf umbrachte. Mochte in dieser Sage ein wahrer Kern stecken oder nicht, die alten Asteroiden, deren größte einst auf den Namen griechischer Gottheiten gehört hatten, waren jetzt unter dem Begriff »Judas Ischariot« zusammengefaßt. Daß wir uns im Bannkreis des Judas bewegten, bemerkten wir an einer gewissen, ganz leisen mondartigen Helligkeitsahnung, welche das Graue Neutrum plötzlich durchzitterte, sowie an einem unsagbar leisen, spinnwebartigen Getöne in höchster Lage, das uns von allen Seiten sommerlich zu umzirpen begann. Dann und wann sahen wir in fernster Ferne unseres Gesichtskreises eine matte Planetarscheibe auftauchen, dahinziehen und wieder verschwinden. Ich aber schloß die Augen jedesmal, um nichts mehr zu sehen, denn ich will es frei bekennen, meine Seele war übersättigt, sie konnte die Größe der Schöpfung nicht mehr ertragen, war sie doch eine Erdseele und keine Raum- oder Engelsseele. Um so mehr bewunderte ich die Knaben ringsum, die all diesen chronosophischen Erlebnissen und Übungen standhielten, als wären’s Wettläufe auf einer zertretenen Spielwiese vor der Stadt.
    Als ich aber wieder einmal die Augen öffnete, da bot sich meinen Augen ein Bild dar, das ich alle meine Tage nicht vergessen werde. (Ich meine natürlich den Rest meiner Tage im gegenwärtigen, das ist im zwanzigsten Jahrhundert.) Dicht vor uns strich ein Planetoid des Judas Ischariot vorbei. Die Gewissenhafteren unter meinen Lesern, deren Zeit- und Raumsinn durch die chronosophischen Übungen bereits nicht minder verwirrt sein dürfte als es der meinige war, werden es gewiß verstehen, daß ich die Maße dieses Planetoids, seine Größe, anfangs nicht beurteilen konnte. Ich selbst war als kometartiger Strich und Strahl über die Gebühr und über jede Vorstellung ausgedehnt. Davon aber hatte ich, wie öfters schon gesagt, durchaus kein Gefühl. Ich konnte in bezug auf mich selbst, im Verhältnis zu

Weitere Kostenlose Bücher