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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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dazu ausersehen, dereinst der Hochschwebende seines Zeitalters unter den Silberspinnen zu werden …«
    Während dieser schönen Rede bewegten wir uns unaufhörlich an den Wänden der Verbote und Hemmungen entlang, die mir das Gefühl einflößten, daß wir in eine Art von Kohlenkeller gebannt waren. Bei den letzten Worten vom »Hochschwebenden des Zeitalters« hatte ich die Empfindung, daß der Lehrer seinen Liebling Io-Knirps als den also Erhöhten vorerschaute. Die ganze Rede aber, besonders dort, wo sie von der Größe des Menschen handelte, ließ mich an den Großbischof denken und an seine Lehre von der durch den bloßen Zeitablauf wachsenden Entfernung der Menschheit von Gott. War die Chronosophie auch nur ein Symptom dieser Entfernung, ein Zeichen der ungeheuren Überheblichkeit des genus humanum? Plötzlich vergaß ich, was ich mir zugeschworen hatte, und öffnete meine Augen. Wir schienen uns noch immer im Atomnetz jenes mutmaßlichen Stäubchens zu befinden, von dem B. H. gesprochen hatte. Obwohl wir uns fleißig streckten, zusammenzogen, streckten, hielt uns noch immer der »Kohlenkeller« fest, denn immer wieder tauchte eine plumpe, mattleuchtende Kugel mit ihrer Planetenfamilie in der Ferne auf. Ich aber wollte meinen Augen nicht trauen, als ich auf einmal gewahrte, daß sich von diesen gestirnförmigen letzten Grundgebilden – dem Gesetz der Anziehung und Abstoßung spottend – weiße Mantelformen und Faltenwürfe loslösten und davonströmten, ihrem freien Willen nach. Wie fern sie auch dahinblitzten, ich sah, oder besser, ich fühlte unter diesen schneeweißen Mantelformen und Faltenwürfen die menschlichen Glieder, und ich ahnte das flachsbleiche Haar, das im Fluge nachflatterte. Es war kein Zweifel, es waren Chöre, Herrschaften, Fürstentümer und Throne, und zwar keine Melangeloi, sondern Leukangeloi, Hellengel oder Weißengel, die sich dem Atom entrangen. Albertus Magnus, Bonaventura, Scotus Eriugena oder wer immer darüber geschrieben, hatte die Wirklichkeit unterschätzt, wenn er behauptete, es gingen nur dreihunderttausend Engel auf eine Nadelspitze. Es gingen viel mehr auf eine Nadelspitze. Wohin fluteten diese Wesenheiten dort wie weiße Blitze? Versammelten auch sie sich im Rosarium virginis? Erregt wollte ich schon ausrufen: »Herrgott, B. H., schau doch nur, echte Engel!«
    Ich beherrschte mich aber diesmal und schwieg. Es gab Erfahrungen, die man auch im astromentalen Zeitalter für sich behalten mußte, weil’s einfach zu früh war. Mein Herz klopfte noch immer von einem süßen, unmittelbaren Wissen, als der Lehrer das alltägliche Regenlicht im Schulzimmer wieder eingeschaltet hatte.

Fünfzehntes Kapitel
    Worin nach einem Gang durch die Lamaserien der Sternwanderer, Verwunderer und Fremdfühler die Djebelepisode in der Zelle des Hochschwebenden endet, der mich mit der wahren Gestalt des Universums und mit dem wichtigsten Augenblick meines früheren Lebens bekannt macht.
    Der Lehrer hatte B. H. und mir ein chronosophisches Ehrenzeugnis überreicht, je ein reichverziertes Kärtchen, auf dem uns einige Millionen Raumkilometer, mehrere Raumjahrzehnte, die Besichtigung von Johannes Evangelist und Apostel Petrus, der glücklich überstandene Aufenthalt im Innern eines Sauerstoffunikels mit den dazugehörigen Minusmaßen sowie eine ausgezeichnete Konduite im makro- und mikrokosmischen Kometenturnen gutgeschrieben wurden. Obwohl mehr einem Kontokorrent als einem Schulzeugnis gleichend, war es doch das ehrendste Dokument dieser Art, das ich jemals erworben hatte. Was hilft mir aber das beste Zeugnis, wenn ich es nicht vorweisen kann? Es hilft mir nicht mehr und nicht weniger als die violette Handgelenkschleife, diese ebenso hohe wie unverdiente Auszeichnung. Wichtiger aber als das schriftlich ausgefertigte Dokument unseres lieben Pädagogen erscheint mir die Tatsache, daß ich mich nach all diesen während einer kurzen Unterrichtsstunde körperlich zurückgelegten Zeit- und Raumstrecken gar nicht abgespannt und zerschlagen fühlte, sondern frischer als vorher, wissensgieriger als je und geradezu transparent von meiner heimlichen Begeisterung. Ich hatte mehr als einen Blick getan in den interplanetaren und sogar in den interatomaren Weltraum. Einen
Blick
in den Weltraum tun, das konnte auch zu meiner Jugendzeit der abendliche Spaziergänger, der am Stadtpark vorüberkam, wo ein älterer, fröstelnder Mann, der ein schäbiges Fernrohr aufgeschlagen hatte, diesen Blick für einige

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