Stern der Ungeborenen
vergessen, daß ich unter seiner Leitung auf dem Apostel Petrus einen veritablen Schiffbruch erlitten hatte und ohne die Hilfe von Melangeloi kaum in die Klasse zurückgefunden hätte. Aber überstandene Gefahren sind noch wesenloser als vergangene Vergnügungen. Der Lehrer, mit dem B. H. und ich abseits standen, machte, der Zeitsitte gemäß, kurze, steife Verbeugungen, rieb sich die Hände und bat uns, ihn unbedingt bald wieder zu beehren. Der Kleine Weltraum oder das Niedere Intermundium stehe uns täglich von elf bis zwölf mit all seinen Himmelskörpern zur Verfügung. Er selbst, obwohl nur ein ganz bescheidener Elementarlehrer, habe für uns noch ganz andere Überraschungen übrig als das ABC von Maria Magdalena, Johannes Evangelist und Apostel Petrus. Da sei gleich Petri Nachbar, der Apostel Paulus oder Saturn, eine hochgeistige, seelenvolle, komplizierte, sehr energische und doch leicht epileptische Planetpersönlichkeit, zu deren ganz oberflächlichen Erforschung er, der Lehrer, mehr als hundert Schulstunden aufzuwenden pflege.
Während wir uns so unterhielten, und der Pädagoge mir und B. H. auch noch den Besuch der ganz entfernten Außenplaneten offerierte, tollten die Schulbuben im Schulzimmer herum, wie sie es seit eh und je getan haben. Und nur Io-Knirps schrieb mit Kreide in denselben extensiven Lettern, zu denen der Uranograph die Sterne am Himmel zusammenhüpfen ließ, reihenweise auf die Schultafel:
»Ich soll nicht nach Sternen haschen.« Während er angelegentlich schrieb, trat ihm die spitze rote Zunge zwischen den Lippen hervor. Ich wußte nicht, warum mich das ruhige Gesicht dieses Knaben mit tiefer Sympathie erfüllte. Da läutete die Pausenglocke. (Siehe da, nichts hatte sich verändert, nur daß man persönlich unter Sternen herumstrolchte anstatt unter den Hexametern Homers oder Vergils.) Die Zeit war gekommen, wo die Klasse, der Schulvorschrift gemäß, ein geiststärkendes Bad im Phosphorpfuhl zu nehmen hatte. Der gute Lehrer beruhigte mich, es sei ein völlig trockenes Bad und forderte uns auf, mitzuhalten. B. H. aber wurde im selben Augenblicke von Io-Fagòr angerufen, der uns berichtete, daß der Fremdenführer des Zeitalters sich eigens in den Djebel begeben habe, um mich durch die Lamaserien zu geleiten und, sollte es das Glück wollen, dem Hochschwebenden unter den Silberspinnen vorzuführen.
Und da bin ich nun wieder einmal bei der Crux aller Reiseschriftstellerei angelangt, bei der Beschreibung. Diesmal aber gar ist die Beschreibung noch schwieriger zu bewältigen als gewöhnlich, da es sich um die Beschreibung einer Besichtigung handelt. Gibt es etwas Öderes, frage ich mich selbst, als eine Besichtigung? Für mich nicht, muß ich antworten, wenn ich ehrlich sein will. Jedesmal, wenn ich irgendwo zu einer Karawane von Besichtigern gehört habe, in den Katakomben von Rom, in Pompeji, im Tempel von Karnak, auf der Akropolis von Baalbek, in der Kathedrale von Chartres und so weiter, jedesmal habe ich mich fortgestohlen, bin zurückgeblieben, um der Stimme des Erklärers und dem stumpfen Gleichschritt der müde nachtrabenden Herde zu entgehen, auf die Gefahr hin, daß ich noch weniger von der Sehenswürdigkeit verstand als sie. Noch viel unwilliger aber war ich, die Beschreibung einer Besichtigung nachzulesen, im Baedeker etwa. Die Beschreibung des zu Besichtigenden, das ist wie der Schatten eines Schattens, das ist wie der Inbegriff des Kleingedruckten, das man ebenso gut lesen wie auslassen kann, ohne daß es einem fehlt. – Ich setze nun den Fall, daß einige meiner Leser besonders gutmütig sind, was, wie ich genau weiß, eine ganz und gar unerlaubte Unterstellung ist. Leser sind nicht gutmütig. Sie sind und sollen sein höchst unerbittliche Gläubiger ihres Autors. Sie haben auf Treu und Glauben für ein Buch ebensoviel Geld ausgegeben wie etwa für eine (mäßige) Mahlzeit in einem (mäßigen) Restaurant, die Flasche Wein nicht mit eingerechnet. Sie haben damit das volle Recht erworben, von ihrem geistigen Traiteur, dem Autor, das Voll-Entsprechende auf seinem Gebiete zu fordern. Da das Geistig-Nährende in unserer Welt einen weit billigeren Marktpreis besitzt als das physische Nahrungsmittel, so haben die Leser vom Autor zu fordern: Mehrere Tages- oder Abendstunden intensiver Spannung, Unterhaltung feinerer Art, deren man sich nachher nicht zu schämen braucht, echte seelische Erschütterung, lautes und leises Lachen, dann und wann auch durch Tränen gewürzt,
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