Stern der Ungeborenen
Niemand wird behaupten, daß diese geringfügige biologische Veränderung auch nur annähernd mit dem Abgrund sich vergleichen läßt, der zwischen dem Neandertaler Höhlenmenschen und etwa einem Dante Gabriel Rossetti klafft. (Auch jenem mußten ja die Haare aus dem Pelz fallen, ehe er zu diesem wurde.) Den Zeitgenossen freilich, man verstehe mich recht, den Zeitgenossen, denen ich soeben erschien, wuchsen keine Haare am Leibe, und im Gesicht auch nicht. Welche Zeit- und Kraftersparnis für die Männer, die nicht einmal eines mentalen Rasierzeugs benötigten. Wie es um das Kopfhaar stand, weiß ich nicht zu sagen, wenn ich aufrichtig bin, und ich bemühe mich um Aufrichtigkeit. Es war einfach nicht herauszubringen. Die Perücken verhinderten es. Doch auch diese Perücken bestanden keineswegs aus Haaren. Das Haar galt als verächtlich, als atavistisch unappetitlich. Das fühlte ich sofort und litt darunter, daß ich keine Kopfbedeckung aufhatte. Die Perücken waren nur Stilisierungen von Haarfrisur, aus einer schwach leuchtenden Masse hergestellt, in Gold und Silber. Sie erinnerten an die pathetischen Kopfaufsätze der griechischen Tragöden oder an die surrealistischen Ondulaturen verwegener Schaufensterpuppen aus einer – vom Zeitpunkt meiner Erscheinung aus gesehen – nicht viel näheren Vergangenheit. Dieses Perückenwesen war übrigens, wie ich später in Erfahrung brachte, gesetzlich geregelt. Bis zum hundertzwanzigsten Lebensjahr hatte man das Recht, goldene Perücken zu tragen. Später mußte man sich zum Silber bequemen und bekennen. Die Frauen aber waren noch immer Weib genug, um zwischen Silber und Gold ein geschickt changierendes Spiel zu treiben, wenn das gesetztere Alter, ab hundertzwanzig, dies gebot.
Und da stand ich nun in meinem schäbigen Begräbnisfrack, den Orden eines heimatlich trauten Ländchens an der Brust, das schon zu meinen Lebzeiten bis auf weiteres aufgelassen worden war. Im übrigen hatte meine Erscheinungsform von der ursprünglichen Unsichtbarkeit alle möglichen Stufen der Verdichtung durchlaufen, so daß von Ektoplasma oder Astralleib nicht mehr die Rede sein konnte. Ich war geistig und leiblich so vollzählig »Ich-Selbst« geworden, daß ich, um der Wahrheit die Ehre zu geben, vor Erregung schwitzte. Ich erkannte mich selbst, wenn ich in mich hineinhorchte oder mich mit den Fingern betastete. Meine Zunge stieß wieder an den Goldzahn links oben in der Ecke. Ich merkte, daß B. H. vor Verlegenheit schon grimassierte. Zaghaft – was blieb mir anderes übrig – näherte ich mich also dieser Gesellschaft, die so viel Kulturentwicklung und feine Manier mir voraushatte, um ihr gewünschtermaßen zu »erscheinen«, ein Beinahe-Höhlenmensch in schlechter Kondition, nämlich rundlich, schwitzend und steifbehemdet. Alle lächelten erfreut, als die Stimme meines Schulkameraden B. H. erscholl, unter der zeremoniellen Heiserkeit den Triumph nicht verhehlend:
»Ich erlaube mir, den Herrschaften unsern werten Gast F. W. aus den Anfängen der Menschheit gebührend vorzustellen.«
Nach diesen Worten wandte sich zu mir und verbeugte sich der älteste Mann der Versammlung, welcher Superlativ nichts besagen will, da er hätte auch der jüngste sein können. Während der sich nun entwickelnden geselligen Zusammenkunft lernte ich in ihm den sogenannten »Wortführer« kennen. In mittleren Menagen, so erfuhr ich später von B. H., war der »Wortführer« und der »Hausweise« ein und dieselbe Person. In diesem bedeutenden Hause hier aber gab es neben dem Wortführer und dem Hausweisen auch noch eine Figur, die der«Beständige Gast« gerufen wurde. Diese männlichen Chargen wurden dem Arsenal der Junggesellenschaft entnommen, das sich aus Gründen der schon erwähnten Ehestrenge überall gebildet hatte. Die Junggesellen »lebten mit«, wodurch ein soziales Problem auf glatte Art gelöst war.
»Seien Sie uns willkommen in dieser bescheidenen Gegenwart, Seigneur«, begrüßte mich der Wortführer. Er ließ diese barocke Vokabel, »Seigneur«, auf der Zunge zerrinnen. Man schien sich auf »Seigneur« geeinigt zu haben, um mir nicht nur Ehre zu geben, sondern auch eine trauliche Brücke der Anrede zu bauen zu meinem eigenen Zeitalter hinüber, eine Anrede, die meinen Ohren schmeicheln sollte. Der Gute stellte sich aus der Entfernung eines ganzen Jahrhunderttausends vor, daß die Leute in den Anfängen der Menschheit, das heißt ungefähr vom Neandertaler über Nebukadnezar bis zu Mussolini
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