Stern der Ungeborenen
Glas, jener Industriearchitektur aus meiner Zeit, aus den Anfängen der Menschheit, welche schreiendes Licht und grellen Lärm kraftmeierisch in die nervenlosen Hauskuben zu zerren liebte, als diese Bausitte hier, die im Schoße der Erde dem überempfindlichen Menschen das schützende Heim errichtete. Die Erdoberfläche überragte nur ein mäßig hoher, runder Überbau aus durchscheinendem Material, der dem Geschütz- oder Beobachtungsturm eines Kriegsschiffes glich. In diesen Turm traten wir durch einen türlos offenen Eingang, worauf sich sofort die Plattform, auf der wir standen, zu senken begann. Ich bekam in diesem Augenblick, was mir niemand verdenken wird, tüchtiges Herzklopfen und war deshalb ziemlich froh, als, in der Tiefe angekommen, B. H. mich zu warten bat, denn er müsse mein Erscheinen anmelden.
Als ich mich dann im Empfangszimmer befand, ich weiß nicht, ob hereingerufen oder -geholt, da war ich wieder ganz ruhig und fühlte mich von der unbeteiligten Beobachtungskraft und unerschrockenen Neugier eines echten Forschungsreisenden erfüllt, obwohl mir dieser Zweck meiner nächtlichen Aussendung so recht erst nach meiner Rückkehr bewußt wurde. Meine Aufgabe freilich war nicht so leicht, wie man denken könnte. Ich hätte zum Beispiel, was doch jedem Forschungsreisenden zweifellos obliegt, keinerlei stenographische Anmerkungen in ein Notizbüchlein machen können, aus Gründen des eigenartigen Lichtes nämlich, das den mittelgroßen und wohlgestalten Raum erfüllte. Dieses Licht oder besser, diese Beleuchtung war nicht etwa schwach oder düster, sie war ganz im Gegenteil von wohltuend milder Helligkeit, aber durch irgendeine unbekannte Zumischung gelang es ihr, alles, was sie erleuchtete, zugleich zu verwischen, angenehm ungenau zu machen und in eine schöne Ferne zu rücken. Wenn das Wort aristokratisch auf eine Beleuchtung angewendet werden darf, so war’s die aristokratischste Beleuchtung, die sich denken läßt. Ich sage mit Absicht nicht ästhetisch, sondern aristokratisch, weil sie den Gegenständen Takt und Liebenswürdigkeit angedeihen ließ. Ziemlich warm, ins Gelb-Trauliche spielend, erinnerte sie an das Auer-Gaslicht meiner Kinderzeit und seinen friedlichen Lampenkreis. Von dieser so häuslichen Beleuchtung umspült, standen etwa elf Personen um einen sonderbar hohen, mittelgroßen Tisch, der auf mich den Eindruck eines ertappten Wesens machte, das sich totstellte. Die Personen lächelten hochbefriedigt in die Richtung, wo ich mich aufhielt. Sie hatten sich weder bei den Händen angefaßt noch auch den Raum verdunkelt, wie es die Praxis eines verschollenen Altertums vorschrieb. Dergleichen Hokuspokus schien längst überwunden zu sein. Außerhalb des freundlichen Lichtkreises, genau in der Mitte zwischen jenen Personen und mir, stand B. H., der Wiedergeborene. Obgleich sein Gesicht ganz in Schatten getaucht war, erinnerte es mich, ich weiß nicht warum, an das Gesicht eines Conferenciers oder eines Artisten oder des Erklärers bei einer Abnormitätenschau, der soeben einen schlagkräftigen Satz gesprochen hat. Mit einer Hand wies B. H. auf mich (»voilà«), mit der andern auf die Gesellschaft. Es war von nun an seine symbolische Gebärde. Die Personen dort, die aufmerksam, offen und erwartungsvoll mich ansahen, waren mit nichts anderem bekleidet als mit dem zarten Spitzengewebe, welches dieses Licht ohne Lichtquelle über sie warf. Einfacher gesagt: Sie waren nackt.
Ich hingegen war nicht mehr nackt, geschweige denn nackter als nackt, unsichtbar. Ich war sogar äußerst sichtbar, mir selbst zur plumpen Unlust. Um das Maß vollzumachen, trug ich, horribile dictu, meinen Frack mit steifer, zudem noch eingeknickter Hemdbrust, samt ramponiertem Stehkragen und müder weißer Binde. In diesem Staatsgewand hatte man mich vermutlich vor mehr als hunderttausend Jahren zu Grabe getragen, und damals schon war dieser Frack, ich will nicht übertreiben, aber er war beinahe zwanzig Jahre alt. Neben seinem schäbigen Seidenrevers bammelte der einzige Orden, den ich im Leben empfangen habe, und zwar von einer kunstfreundlichen, aber schwachen Regierung, die drei Wochen nach dieser unbedachten Ordensverleihung vom Teufel geholt wurde. Welch ein Rollentausch! Ich, der als Astralleib, als ektoplastische Erscheinung hierher zitiert worden war, kam mir vor wie der feiste Oberkellner eines mittelmäßigen Restaurants unter leuchtenden Geistern. Diese aber empfingen mich mit großen, erfolgsfrohen Augen,
Weitere Kostenlose Bücher