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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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einen Schatten zu viel Demut und Verehrung erwies, wodurch er dessen Überlegenheit zu ungunsten unseres einstigen gemeinsamen Zeitalters allzu geflissentlich betonte. Dies aber war nur die eine Seite seines nervösen Eifers, denn nicht minder brannte er darauf, mich, den alten Jugendgefährten, den Zech- und Diskussionskumpan verrauschter Nächte bis in den Morgen hinein, von der Höherwertigkeit einer Welt zu überzeugen, in die er mich unversehens aus der Todesnacht gelockt, zitiert und eingeführt hatte. Das war mir nicht neu an ihm. Wie oft hatten in den Gesprächen unserer Tage seine Augen mich gebeten,
seinen
Göttern zu dienen, das heißt eine Lehre, ein Buch, ein Bild, einen Autor, eine Musik, für die er schwärmte, selbst für einen Gipfel zu halten und zu erklären. So wurde der arme B. H. im Dienste der Sache zwischen Anfang und Ende, zwischen den Polen eines ganzen Jahrhunderttausends hin und her gerissen.
    Io-Rasa, die Mutter der Braut, hatte nun mit einer anmutigen, ja preziösen Geste die Versammelten zum Mahle eingeladen. Ich kann nicht sagen, auf welche Weise mir die Namen der Persönlichkeiten hier bekannt wurden. Die Übergänge meiner Erlebnisse verwischten sich manchmal. Ich tat, was alle andern taten. Wir stellten uns im Kreise um das Bildwerk auf. Die Festesmahlzeiten wurden stehend eingenommen. Auch hierin dürfte ein gedankenvoller Geschichtsforscher nur eine logische Entwickelung erkennen. Die antiken Völker, einschließlich noch der Griechen und Römer, hatten, auf Diwans ausgestreckt, ihren übermäßigen Tafelfreuden gehuldigt. Wir zu unserer Zeit, nicht viel mehr als sechs- oder siebenzehnhundert Jahre nachher, pflegten auf Stühlen, am besten mit bequemen Lehnen, ein rundes Stündchen zu sitzen, wenn ein Diner serviert wurde. Diese hier standen. Da sie jedoch einen zarten, wenn auch lieblichen Körperbau besaßen, wären sie bei einem unserer normalen gesellschaftlichen Mähler glatt zusammengebrochen, ehe noch das runde Stündchen um war. Es mußte daher alles flink und flott gehen, um die verfeinerten Glieder der jüngsten Menschheit, die zugleich die zuhöchst gealterte war, nicht zu überlasten. Die antike Todsünde der Völlerei hatte ja schon in meinen Tagen der salatessenden Magerkeitsfanatiker auszusterben begonnen. Zuerst liegen beim Essen, dann sitzen, und endlich stehen, das nenne ich eine Klimax der Aufrichtung.
    Wir umgaben also in einem Kreis das abstrakte Kunstwerk, das die Aufgabe zu haben schien, die Augen und die Seelen zu erfreuen, während der Körper die Speisen genoß. (Man wird aber sogleich sehen, wie veraltet ich dachte, wenn ich meinte, daß nur der Körper die Speisen genoß und im Gegensatz dazu Augen und Seele eine ästhetische Korrektur brauchten.) Es wurde eine Tischordnung innegehalten, ohne daß es einen Tisch gab. Die übliche Tischordnung übrigens. Der Ehrenplatz zur rechten Hand der Hausfrau und Brautmutter Io-Rasa wurde mir, dem exotischen Gaste, zugewiesen. Zu meiner rechten Hand stand eine Dame in unverwüstlicher Jugendschöne, welche man »die Ahnfrau« nannte und mit ausgesprochener Ehrfurcht allseits behandelte. Es war die Ururgroßmutter des Hausherrn und Brautvaters Io-Fagòr, nun bald an der Grenze des Lebens angelangt. – Die lange Lebensdauer brachte es mit sich, daß oft fünf und sechs Generationen nebeneinander blühten und gediehen. Der Bibelkenner, der die Geschlechtsregister bis zur Sintflut im Gedächtnis hat, wird sich darob nicht verwundern oder gar Ärgernis nehmen. Die geringere Menschenzahl und das längere Leben standen auch jetzt und hier in einem schlüssigen Verhältnis, das am Alten Testament jederzeit nachgeprüft werden kann. – Älter als die Ahnfrau rechter Hand war rund um diese nicht vorhandene Tafel vielleicht nur noch der Wortführer, der lebhafteste und quickest beredte Mann. Ja, diese Junggesellen, die recht eigentlich ein parasitäres Dasein führten, verdienten sich ihren Unterschlupf durch Witz, Vielwissen, Erzählerlust, Unterhaltsamkeit und kavaliersmäßig umständliche Galanterie, wodurch sie jeden Historiker teils an die Sykophanten Athens, teils an die Abbes des ein wenig späteren achtzehnten Jahrhunderts gemahnen sollten, die ja allesamt auch nur Outsider und Mitesser der Gesellschaft gewesen sind. Ich, weiß Gott, war leider kein Historiker noch sonst ein gelehrter Kopf und bedauerte die vielen hundert Schulstunden, die ich, fauler als B. H., geschwänzt hatte, um, von Lebensneugier

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