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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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nach Bergstadt oder Montin brachte. Obgleich ich sofort einnickte, hatte ich eher das Gefühl, in der Scenic Railway eines Lunaparks zu sitzen. Jedenfalls ging alles im Hui …«
    Die obigen Zitate bilden nur eine schmächtige und ganz zufällige Auswahl jener Erinnerungen, wie ich sie zu Hunderten hingefetzt habe, als sie noch frisch waren. Inzwischen haben sich diese Erinnerungen kaum wesentlich verdunkelt. Ich schiebe jetzt vor dem Auge des Lesers deutlich den Zettelhaufen zur Seite, weil viel zu viele Details durch ihn in mir wachgerufen werden, welche einer knappen Darstellung meiner Mission im Dschungel im Wege stehn würden. Das Wort Mission rutscht soeben in die Zeile. Daß sich meine moralische Absicht, Lala zurückzuholen, oder meine unmoralische Absicht, mit ihr im Dschungel zu leben, so plötzlich zu einer Mission und gar zu einer politischen Mission entwickelte, das hätte ich selbst am wenigsten gedacht. Mein Auge fällt noch einmal auf den obersten der fortgeschobenen Zettel. Dort lese ich zwei Fragen: »Warum waren die Wachen mit den Alpenstöcken abgezogen?« – »Wer war’s, der mir die Augen verband wie einem Parlamentär?«
    Die erste Frage kann ich nicht beantworten. Sie beweist mir aber, daß ich die Wachen entlang der Brustwehr vermißte, als ich in den Festungsgraben hinabkletterte. Wahrscheinlich war Verrat im Spiel.
    Die zweite Frage ist leicht beantwortet. Eine Gruppe von sonntäglich gekleideten Dschungelbauern schien mich erwartet zu haben. Sie entschuldigten sich in einem rauhen Berglerdialekt der Monolingua (den ich aber ausgezeichnet verstand), daß sie den Auftrag hätten, mich mit verbundenen Augen nach Bergstadt zu bringen. »Bitte, bitte«, lachte ich, »ich lasse mir gerne die Augen verbinden, wenn man mich nur rasch genug zur Vorzugsbraut Io-La transportiert.« Es sei eine ganze Anzahl der ehedem taubengrauen Bräute im großen Brauhaus versammelt, und der Transport werde nur wenige Minuten in Anspruch nehmen, da es ja keinen Sinn habe, den langsamen Aussichtswagen zu benutzen, sondern der Expreßcaisson schon bereit stehe. »Um so besser.« Einer der braunhäutigen Skipetaren oder Edelzigeuner entfaltete ein rotes Seidentuch und verband mir respektvoll die Augen.
    Als man mir in Bergstadt vor dem Brauhaus des Mittelpunkts das Tuch wieder abnahm, konnte ich in aller Ruhe einen Blick um mich werfen. Ich befand mich, das war mein Eindruck, in einer ziemlich trostlosen Provinzstadt, die auf unebenem Terrain erbaut, aus nicht breiten, aber stark ansteigenden Straßen bestand. Die grauen Häuser, drei- und vierstöckig mit ganz glatten Fassaden, entbehrten jeglicher Charakteristik und zeichneten sich einzig dadurch aus, daß ihre Fensterfronten keine durchsichtigen, sondern grünliche Mattscheiben besaßen, welche die Bewohner vor dem starren und grellen Sonnenlicht dieser Erdepoche zu schützen hatten. Hätte ich einen gewiegten Kulturhistoriker zur Seite gehabt, er hätte wahrscheinlich festgestellt, daß die Entwicklung jenes Rückfalls, den die astromentalen Menschen ohne jede Berechtigung »Dschungel« nannten, ungefähr beim Jahre 1860 angelangt sein müsse, in der Frühepoche Victorias und Franz Josephs, Darwins und der Hochindustrialisierung der Welt. Und dennoch, trotz gewisser äußerlich auffälliger Analogien, zeigte Bergstadt eine ganz und gar verschiedene Stimmung als jenes Zeitalter meiner Großväter, das ich noch als Echo in meiner Kindheit zu fühlen bekommen hatte. Die verhaltene, abweisende, ja drohende Stimmung von Dschungel-Bergstadt, nicht minder fremd für mich als die der astromentalen Welt, erstickte in mir den Argwohn, daß ich etwa auf meiner unfreiwilligen Forschungsreise in zwei verschiedene Geschichtsperioden hineinmaterialisiert worden sei. Nein, es konnte kein Zweifel darüber herrschen, daß die Dschungel nicht nur auf derselben Erde lagen, sondern auf den Gleisen derselben Geschichtszeit liefen wie Panopolis, Geodrom und Djebel.
    Die biderben Dschungelleute mit ihren Jankern und roten Zipfelmützen empfahlen sich altmodisch mit Handschlag von mir, worauf mich zwei städtisch Gekleidete übernahmen. Ich sage »städtisch gekleidet«, bin aber nicht imstande, diese städtische Kleidung aus meiner Erinnerung näher zu beschreiben. Sie war gewiß für meine Augen so gewöhnlich, daß ich sie weiter nicht beachtete und annehme, daß sie der normalen Kleidung meines eigenen Vorlebens ähnlich gewesen sein muß. Vice versa erweckte auch mein schwarzes

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