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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Fragen stellte, so tat ich es schon mit der perversen Lust des Verwundeten, der seine Wunde mit Alkohol betupft, damit sie noch mehr brenne:
    »Habe ich Sie richtig verstanden, Lala«, begann ich heuchlerisch, »Sie wollen nie mehr in Ihre Welt zurückkehren, nie mehr ins Haus Ihrer Eltern, nie mehr Ihre Lieben sehen, nie mehr Ihre Welt und verschwinden für immer in solchen Höhlen wie diese hier …?«
    Ich machte eine bewußte Pause, um ihr Zeit zu lassen, heftig den Kopf zu schütteln, um ihrem »Nie« Nachdruck zu verleihen. Ihr Gesicht war ganz blaß geworden. Jetzt erst stieß ich zu mit meiner Frage:
    »Sie wollen nicht zurückkehren, das heißt, Sie wollen, daß ich hier im Dschungel bei Ihnen bleibe und mit Ihnen lebe?«
    Lalas Schreck bei diesen Worten war so entwaffnend offen, daß ich mit Bedacht meine schmerzliche Wollust weiter auf die Folter streckte.
    »Ich habe über Ihren Besuch und all das, was Sie mir in meinem Zimmer gesagt haben, scharf nachgedacht, Liebste. Mehr als das: Ich bin hierher gekommen, dem Rat Ihrer weisen Ahnfrau gehorchend, von der Sie so manche Eigenschaft geerbt zu haben scheinen. Alle meine moralischen Argumente daheim waren verlogen und feige. Ich nehme sie hiermit offiziell zurück. Der Altersunterschied zwischen Ihnen, Lala, und mir ist eine Lappalie. Und wäre ich selbst, wie Sie ausgerechnet haben, drei- undneunzig Jahre alt, was ist das schon? Ich könnte gut noch zwanzig Jahre älter sein, ohne auf Sie verzichten zu müssen. Mein Leben ist vollkommen regulär, wenn ich auch nicht genau weiß, wie ich wiederum zustandegekommen bin. Hauptsache, ich bin ein Aikmetant und Eumelieur. Sehen Sie hier, ich spanne meinen Bizeps, daß Sie ihn durch den dicken Stoff meines Fracks hindurch spüren können. Hat ein Gespenst solche Muskeln? Dasselbe gilt von meiner Moral. Ich bin weder Ihrem Vater, Ihrer Mutter, Ihrer Ahnfrau, noch B. H., noch sonst wem die leiseste Anständigkeit schuldig. Im Gegenteil, nicht ich habe wen zitiert, sondern man hat mich zitiert. Auch wissen Sie selbst genau, daß ich durch keinen Blick und noch weniger durch schwüle Verführungskünste um Sie geworben habe. Als ich Ihre Brust berührte, Lala, waren meine Gedanken furchtsam und keusch. Es ist wahr, die Hand Ihrer Ahnfrau hat meine Hand auf Ihre nackten Brüstlein gelegt, damit die primitiven Kräfte des Altertums in mir auf Sie übergehen. Ob das nun geschehen ist oder nicht, es war eine gefährliche Spekulation. Sie haben Ihren Entschluß gefaßt und ausgeführt. Ich tue jetzt dasselbe, Lala, denn ich kann ohne Sie nicht leben. Darum bin ich hier. Ich nehme Ihren Antrag von heute nacht an.«
    Lala ließ langsam ihren Kopf sinken. Ich rückte ihr näher und faßte sie bei der Hand:
    »Sie haben doch nicht vergessen«, sagte ich, »daß Sie mich geküßt haben?«
    Lala zuckte mehrmals mit dem Mund, ehe sie leise hervorbrachte:
    »Man hat mir hier eine Arbeit anvertraut … Und ich bin so stolz darauf …«
    »Arbeit, Liebste, Arbeit«, nickte ich, hoch befriedigt, aber mit zusammengebissenen Zähnen. »Da sieh einer nur an, wie schnell das geht. Im Handumdrehen ist man merkurisiert oder ökonomisiert. Vor fünf Stunden war Ihnen das Wort Arbeit noch so fremd wie das Wort Tod. Ihre astromentalen Vorfahren, Lala, haben Sie von der Arbeit befreit. In den Anfängen der Menschheit aber, aus denen ich komme, mußten Mann und Weib arbeiten. Und das war gut so, sonst hätten sie sich noch öfter gegenseitig totgebissen, als es schon geschah. Ich ehre Sie, Lala, wenn Sie als Kellnerin arbeiten. Und auch ich werde mir eine Arbeit suchen, denn nun sind wir wieder in die Ökonomie verstrickt, in diese primäre Folge des Sündenfalls … Zuerst aber werde ich eine Wohnung für uns suchen. Vielleicht kann mir der General dabei helfen.«
    Ich wußte genau, was ich tat, als ich das Wort General an diesem Punkte ins Gespräch mischte. Die Bezeichnung ist übrigens kein sprachlicher Notbehelf und bloßer Ersatz für einen Begriff der Monolingua. Der General hieß hier wirklich General. Ich wußte alles. Nicht ohne Wirkung waren auf mich in diesen Tagen die clairvoyanten Fähigkeiten der fortgeschrittenen Menschheit geblieben. Mein Vorwissen und mein Ahnungsvermögen hatten sich unglaublich erhöht. Als Lala das Wort General aus meinem Munde hörte, hob sie die Augen und sah mich lange an. Ganz plötzlich begann sie zu weinen.
    »Tränen«, fragte ich mit tückischer Verwunderung, »warum Tränen? Geht nicht alles am

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