Stern der Ungeborenen
silbergrauen Schleierwurf, auf Kothurnen und mit hohem Kopfputz, schlank und geziert, den allbekannten Stichen des achtzehnten Jahrhunderts, auf denen griechische Göttinnen, Nymphen und Dryaden dargestellt sind. Ich schickte ihr eine starke, böse Regung nach. Diese starke, böse Regung traf sie mitten in den schmalen Rücken. Sie wankte vor Schwäche, die Zweihundertjährige, und ich dachte, sie würde umsinken. Doch weit gefehlt, sie sank nicht um. Ich hatte nicht gerechnet mit der willenskräftigen Eitelkeit der astromentalen Menschheit, die in Lalas Ururgroßmutter verkörpert war. Die Jugendschöne erfing sich im Nu und verwandelte mit bewundernswerter Geschicklichkeit ihr Wanken und Taumeln in ein leichtgemutes, morgenfröhliches Tänzeln und Schwänzeln.
Sie blieb nicht einmal stehen, um Atem zu schöpfen.
Ich aber griff in die Tasche nach meinem Reisespielzeug.
Ende des Zweiten Teils
Dritter Teil Dritter Tag
Die Flucht aus dem Wintergarten
Es gibt zwei Grundarten von Engeln. Die einen halfen dem Menschen von Anfang an, die Erde wohnlich einzurichten. Die andern verhinderten ihn daran. Die Menschheit ist noch lange nicht reif genug, damit man vor ihr enthülle, welche von diesen Engeln die guten sind und welche die bösen.
Valentinus, der Gnostiker. Zitiert aus dem ›Syntagma‹ des Hippolytus um 170 nach Christi Geburt.
Neunzehntes Kapitel
Worin ich die Vorbereitungen in Dschungel-Bergstadt aus nächster Nähe beobachte, von einer verwandelten Lala Abschied nehme und gänzlich unvermutet zum Unterhändler bestimmt werde.
Und da saß ich nun wieder einmal an einem richtigen eichenen Ratskellertisch, in einem großen, rauschenden, raucherfüllten Lokal, von dem ich den bestimmten Eindruck davongetragen habe, daß es »Brauhaus zum Mittelpunkt« hieß. – Dürfte ich mit diesem lebhaften Satz das untenstehende Kapitel beginnen, wäre uns beiden geholfen, dem Leser und mir. Doch gerade darin liegt ja die Schwierigkeit. Ich darf mit solchen vitalen und wangenroten Sätzen den Sprung in medias res nicht wagen. Das widerspricht dem inneren Gesetz dieser Reiseerzählung, das mir befiehlt, die epische Illusion zu vermeiden und um der heiklen Wahrheit willen den Leser immer wieder hinter die Kulissen meiner Arbeit zu führen.
Auf meinem Schreibtisch liegen viele, viele Zettel, vollgekritzelt mit raschen Notizen. Ich treibe keinen plumpen Schwindel und behaupte nicht, daß ich diese Notizen mitgebracht habe. Immerhin aber gehören sie zu den ältesten Dokumenten meiner Reise, man möge dieselbe definieren als was immer man will. Diese Notizen, meinen Aufenthalt im innern Dschungel betreffend, gehören nämlich zu den Aufzeichnungen, die ich bereits in den ersten Tagen nach meiner Rückkehr in das Jahr 1943 aufs Papier geworfen habe, und zwar meist in einer Schrift, die ich selbst nur mit Mühe entziffern kann. Ich greife wahllos Folgendes heraus:
»Vergiß nicht, daß Dschungel-Bergstadt wirklich eine Bergstadt mitten im Dschungel war, vielleicht hieß sie Montin, ich weiß es nicht mehr. Das Wesentliche, was ich weiß und was mich noch immer wundert, Bergstadt war nicht antik, nicht italienisch, nicht spanisch, nicht mexikanisch, obwohl sie hätte erwartungsgemäß am ehesten mexikanisch sein müssen mit Indios und Mestizen, da wir uns in Californien befinden. So logisch aber ging es nicht zu. Bergstadt war eher slawisch oder vielleicht schottisch, nüchtern, während die Bauern der Umgebung aus unbekannten Gründen Albanern glichen.« – »Man hatte mir die Augen verbunden. Ich konnte ja ein Spion der Mentalen sein.« – »Wie soll ich die Quintessenz der Vision klarmachen? Das, was mich noch jetzt am stärksten beunruhigt, ist folgende Frage: Wie konnten astromentale Panopolis (öde, graue Nervensubstanz) und Dschungel (altfränkisch, biertrinkend, bäuerlich, magisch) nebeneinander auf derselben Erde existieren? Diese Coexistenz war mir selbst so unsagbar evident. Jeder Versuch, den Widerspruch zu überbrücken, wie zum Beispiel die Behandlung der Frage, warum Bergstadt unter dem ewig blauen Himmel grau ist, wird die Evidenz des Erlebten herabsetzen.« – »Die mentale Tageszeit schien auch von der Tageszeit im Dschungel verschieden zu sein trotz derselben Sonne. So auch schienen zwischen der Lala der kurzverwichenen Nacht und der Lala dieses Morgens ganze Wochen und Monate zu liegen.« – »Ich weiß nicht mehr, ob’s eine Schwebe-, eine Seilbahn war, wie zum Beispiel in Bozen, die mich
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