Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
Vom Netzwerk:
Wachsblüten. Die Riesenmotten gaukelten und zwitscherten erregt zu dieser Stunde. Ich trat durch die Gitterpforte ins Freie, das heißt ins Öde.
    Es mochte fünf Uhr früh sein. Das erste Morgengrauen hob an, sich bemerkbar zu machen. Herzwürgend war diese Leere der astromentalen Erde. Es gehörte starke Einbildungskraft dazu, sich unter dem eisengrauen Rasen von Horizont zu Horizont das Labyrinth der lebendigen Panopolis mit ihren tausend Teilstädten vorzustellen. Ich selbst verlor fast den Glauben an die Existenz der Allstadt, obwohl ich soeben aus einem ihrer Häuser hervorgetaucht war. Noch niemals war mir die Erde so sehr als einsamer Planet erschienen wie in dieser Aprildämmerung. Trotz der Millionen Menschen und ihrer hochentwickelten Geistes- und Seelenkräfte tief unter der Rasendecke, auf der ich dahinschritt, kam Gäa oder Eva mir verlassener vor als Johannes Evangelist und Apostel Petrus. Wie gerne hätte ich jetzt zwei Melangeloi des Erdplaneten zu Begleitern gehabt. Die Engel drückten sich aber im Augenblick oder gaben sich nicht zu erkennen. Da dachte ich an den Dschungel. Vielleicht war der Dschungel wirklich ein neuer Besserungs-Versuch, den Gott mit den Menschen anstellte, nachdem Experiment 7958 (Astromentalismus) wieder nicht geglückt war. Hatte Minjonmans Sohn recht, den Dschungel für die Grundlage der Erneuerung zu halten? Meine Hand zuckte nach dem Reisespielzeug. Der Dschungel war mein Platz. Lala hatte es richtig erkannt. Nein, nein, der Dschungel ist alter Mist. Mir standen ja drei andere Refugien offen, sollte es nötig sein. Der Großbischof und König Saul hatten sie mir angeboten, und der Hochschwebende würde mich gewiß nicht abweisen. Während meine Gedanken vertrauensvoll diese drei Persönlichkeiten suchten, hatten meine Füße zu meiner Freude einen schmalen, ausgetretenen Pfad im eisengrauen Rasen entdeckt. Den gingen sie morgenlich munter entlang, ohne zu wissen wohin.
    Vor mir erhob sich ein silbriger Dunst, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Das war nicht der feuchte Dämmernebel, der einst vor Sonnenaufgang von der Erde aufzusteigen pflegte. Es war die Ausdünstung oder die Emanation des grauen Rasens, eine Art von elektrisch nervösem Tau, der ein wenig an den Qualm des Mare Plumbinum erinnerte, nur daß er viel feiner und langsamer emporschleierte. Ich hatte ja inzwischen schon lang Sinn und Aufgabe des allumspannenden Rasens kennengelernt. Wenn er, oberflächlich betrachtet, das liebe grüne Gras der Vorzeit zu ersetzen schien, so spielte er doch in Wirklichkeit eine weit wichtigere Rolle: Er war der gemeinsame »Stromleiter« aller Nervenregungen, Gedankenzuckungen, Empfindungswallungen und Willensballungen, welche die mentalen Menschen einander zusandten. Im Bereiche dieses dichten Rasens, der genau die graue Farbe der Nervensubstanz zeigte, war alles Menschliche miteinander seelenhaft verbunden. Die scharf eingestellten Wünsche gelangten mit Leichtigkeit zu den Zusammenstimmern, da der flaschengrüne Glasfluß des Geodroms alle Ströme, die ihm der Rasen zutrug, verstärkte und aufs deutlichste auseinanderhielt. Das war der Grund, weshalb man jenseits des eisengrauen Rasens, das heißt jenseits der Kulturwelt, die Ziele viel schwerer oder gar nicht auf sich zubewegen konnte. Die Hügel und Berge der Dschungel zum Beispiel mußte man, wie wir es bald selbst erleben werden, mit eigener Kraft erkraxeln oder mittels Rad und Achse befahren.
    Während ich so in dem silbernen Morgendunst der Panopolis dahinschritt, des Pfades nicht achtend und des Zieles völlig ungewiß, wuchs plötzlich, keine dreißig Schritte entfernt, gegen den immer helleren Horizont eine feine Gestalt auf, die mein Herankommen gelassen erwartete. Ich war durchaus nicht darauf vorbereitet, zu dieser Stunde der Ahnfrau im Freien zu begegnen. Ich muß gestehen, ich habe im Leben selten eine Schönheit angetroffen, die in solcher Harmonie mit Zeit, Ort und Licht gekleidet war wie GR 3 im Hinblick auf diese Morgendämmerung. Sie war um und um in silberne Schleier gehüllt, als sei sie selbst nichts anderes als ein Sinnbild der mentalen Vortragsstimmung. Ich darf den hohen, stilisierten Hirtenstab nicht vergessen, auf den sie sich nonchalant stützte. Er war mit einem Bouquet der rostroten Strauchblumen geschmückt.
    »Eure Elegance hat sich bereits erhoben«, verbeugte ich mich verlegen, »Madame schläft nicht mehr …«
    »Nein, Madame schläft nicht mehr«, erwiderte GR 3 mit ihrem tiefen Alt,

Weitere Kostenlose Bücher