Stern der Ungeborenen
der farbigsten Stimme der astromentalen Welt, und wenn ich Ihre Elegance recht verstand, meinte sie, daß mit rund zweihundert Jahren der Schlaf ganz und gar überflüssig geworden war.
»Ich möchte Madame bei Ihrem Morgenspaziergang nicht belästigen«, grüßte ich und wollte vorbeigehen, Io-Fagòrs Mahnung eingedenk, die Ahnfrau möge ihre Atmungsorgane in freier Luft schonen.
»Belästigen«, gurrte der satte Kontra-Alt, mich zurückhaltend. »Wer sich spät niederlegt und früh auf ist, weiß mehr als die andern und lebt mehr als die andern.«
Ich erklärte mit etwas gezwungener Galanterie, daß Madame, würde sie sich auch nicht so spät hinlegen und so früh erheben, unvergleichlich mehr wüßte und mehr erlebte als alle anderen. Die jugendschöne Uralte sah mich an aus den tiefliegenden Augen in ihrem emailleglatten schattenlosen Gesicht. Ich konnte nicht unterscheiden, ob der Ausdruck in diesen Augen höhnisch, traurig, starr, böse oder nur überaus kurzsichtig war:
»Ich weiß zum Beispiel und habe erlebt«, sagte sie, »daß unser Kindchen auf und davon ist …«
»Unser Kindchen? Wen meint Madame?« stammelte ich, obwohl ich genau wußte, wen Madame meinte.
Die Ahnfrau raffte ihren silbernen Schleier um den makellosen Leib zu einer neuen Faltenverteilung. Es war die charakteristische Attitude der modernen Weltdame:
»Aus dem Zimmer Seigneurs ging das Kindchen auf und davon, so wie es war, aber vorher nicht gewesen ist …«
Ich fühlte, wie ich erstarrte und blaß wurde:
»Lala«, stieß ich hervor. »Was soll das heißen, auf und davon? Wohin auf und davon?«
»Wozu fragen, wenn man sich’s schon selbst beantwortet hat«, sagte die Ahnfrau, und ihre Stimme war ganz dunkelsamtig von heuchlerisch moralischer Entrüstung. »Es ist der Weg der feinen Kätzchen, es ist der Weg Melbas …«
»Das darf nicht geschehn«, rief ich, »das kann man nicht dulden, das muß verhindert werden.«
»Wer soll es verhindern, Seigneur«, seufzte die Ahnfrau tief auf.
»Es bleibt nichts anderes übrig«, sagte ich, »ich muß sie zurückbringen. Ich werde sie zurückbringen …«
»Brav, brav, brav«, gurrte die fürchterlich reizende Alte, »am besten bevor das Haus erwacht, bevor die Stadt erwacht, bevor die Ereignisse beginnen und enden …«
Es war einer jener Augenblicke, in denen man herumirrt wie in einem Labyrinth. Die Ahnfrau wußte, daß die Braut einen Teil der Nacht in meinem Zimmer verbracht hatte. Sie ließ durchblicken, daß sie glaubte, die Braut habe das Zimmer als eine andere verlassen, als sie es betreten. Was sie wußte oder zu wissen glaubte, würde nach dem Erwachen das ganze Haus, die ganze Stadt zu hören bekommen. Unschuldig war ich somit zum ehrlosen Schurken geworden, der die Gastfreundschaft mißbraucht, der das Kind des Hauses, die jungfräuliche Braut eines andern in seinem Zimmer vergewaltigt, obwohl er nicht einmal den Anspruch darauf erheben kann, ein redlich lebendiger Mensch zu sein. All das war in den Worten von GR 3 als erpresserische Drohung enthalten und ließ mir keine Wahl. Sie hatte mich in der Hand. Zugleich aber war etwas ganz anderes in ihren Worten enthalten und schwang mit in dem Ton, mit welchem diese gesprochen wurden. Es war die kupplerische Ermunterung, die göttliche Gelegenheit wahrzunehmen, Lala in den Dschungel zu folgen und dort mit ihr für immer zu verschwinden. Begreift man meine Lage? Ich hatte nur zwei Wege zur Wahl, einen moralischen und einen unmoralischen. Beide aber, der moralische wie der unmoralische, waren ein und derselbe Weg, denn beide führten zu Lala. Es hätte eines stärkeren Charakters bedurft als ihn Benoits Schuldner besaß, um in diesem Fall auch den moralischen Weg, als eine Maskierung des unmoralischen, zu vermeiden.
Die Sonne ging auf, den fremdartigen Dunst zerteilend. Niemals während meines ganzen Aufenthalts war ich mir weniger bewußt, in der vorweggenommenen Gegenwart einer spätesten Zukunft zu leben, als in dieser Minute. Es war reine fraglose Gegenwart um mich, denn Eros kennt keine andere Zeitform. Zugleich aber blinzelte ich zur Sonne auf: Wie wär’s jetzt mit einer Herzattacke, mit einer Transparenz oder noch besser mit der Selbstzerstörung gemäß Urslers erstem grundlegenden Paradox? Die Sonne reagierte nicht auf meine Einflüsterung.
Ich drehte mich um. Etwas hatte mich dazu gezwungen. Dort bewegte sich mit schwingenden Schrittchen am blumenbekränzten Stabe GR 3 auf unsern Hausgarten zu. Sie glich im
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