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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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besessen, durch die alten Straßen unsrer Heimatstadt zu flanieren und in kleinen Wirtshäusern Bier zu trinken und Billard zu spielen. Wie viel Fragen brannten mir nun auf der Zunge, die ich B. H. hätte zuflüstern mögen. Dieser stand aber am andern Ende des Kreisdurchmessers und wurde mir durch das abstrakte Kunstwerk verdeckt. Ich empfand es mehr als rücksichtslos, daß man einen zitierten Geist des Altertums zwischen zwei Tischdamen der Gegenwart placiert hatte, anstatt ihm seinen Mentor oder Vergil hilfreich zur Seite zu stellen.
    Nach und nach hatte ich mich mit dem Phänomen der Lebensdauer abgefunden. Aber wie sollte ich mir erklären, daß diese Körper überhaupt nicht alterten und sich veränderten, nicht einmal an der Grenze des äußersten Greisentums? Die Ahnfrau neben mir hatte dieselben kleinen, festen Brüste wie irgendein junges Mädchen. War da eine unbekannte Begnadung der Natur im Spiel, unausdenkbar für frühere Zeitläufte, eine willensstarke Diät, von jung auf geübt, oder nur eine ganz und gar durchtriebene Kosmetik? Ich muß gestehen, diese Alterslosigkeit erfreute mich durchaus nicht, sie erschreckte mich, sie bedrückte mich, sie war mir unheimlich wie ein verborgener Frevel, wie der Ausfluß einer ungeheuerlichen, höchstgezüchteten Sündhaftigkeit, die mit zielbewußt härtestem Egoismus das wahre, dichtgefügte Leben für ein endloses Scheinleben preisgab. Die Ahnfrau duftete wundervoll nach einem ganz leisen Wohlgeruch ihres Fleisches. Dennoch vermied ich es, sie anzusehen. Ich drehte und wendete mich hilfesuchend, um B. H.’s Gesicht ins Blickfeld zu bekommen.
    Es gelang mir nicht, denn Io-Rasa, die Hausfrau, reichte mir einen Becher aus dickem Kristall. Das Mahl hatte begonnen. Es bestand aus sechs Gängen, von denen jeder in andersfarbigem und andersgeformtem Kristall gereicht wurde, dessen Hohlraum nicht viel größer war als der eines Eierbechers. Man merkt somit bereits, daß die Speisenfolge aus einer Reihe von Getränken bestand, aus drei sehr heißen und drei eiskalten. Die heißen hellrosa, ziegelfarben und bouillonbraun, die eiskalten pistaziengrün, safrangelb und cremeweiß. Dieses flüssige Menü half mir über eine verlegene Angst hinweg, die mich die ganze Zeit bedrängt hatte, daß ich nämlich mit unbekanntem Bestecke werde hantieren müssen. Dennoch sah ich den Leuten getreu auf den Mund. Sie nippten mit prüfenden, winzigen Schlücklein vom Becherrand, sehr nachdenklich, sehr träumerisch und schweigsam. So schlückerte ich denn auf dieselbe Weise das Gebotene.
    Mit einiger Phantasie hätte ich schon vor dem Mahle folgern müssen, daß die feste Nahrung dem Menschengeschlechte längst abhandengekommen sei. Die bloße Vorstellung, sich vom toten Fleische zu nähren, hätte in meinen Gastfreunden wahrscheinlich ein krasseres Grauen erweckt als in mir die Vorstellung, ein Menschensteak mit Zuhilfenahme von Worcestersauce verschlingen zu müssen. Ihr Grauen aber schien sich nicht nur auf Fleisch zu beschränken, sondern ebenso auf Pflanzennahrung zu erstrecken, auf den Genuß jeder kreatürlichen, jeder geschaffenen Form und darüber hinaus sogar auf das Verzehren künstlich hergestellter Formen, als da sind Kuchen, Backwerk, Torten und so weiter. Wie weit bei dieser radikalen Entwicklung der Ernährungsgeschichte die Notwendigkeit mitwirkte, die Zähne zu schonen, konnte ich nicht erforschen. Ich wußte jedoch, daß nächst den Haaren der Abnutzungskoeffizient einer hochgereiften Natur am meisten die Zähne gefährdete. Immerhin, die Zähne, die ich sah, blitzten vor Schmelz und waren gewiß nicht künstlich. Man genoß somit nichts anderes als drei salzig-suppige, zwei fruchthaft-klare Gänge und zum Abschluß einen milchig-dicklichen Trank, dies alles in den denkbar kleinsten Portionen. Nicht sofort verstand ich, warum diese Portionen so klein sein mußten. Ich gestehe, es war für mich anfangs überhaupt ein ziemlich unverständliches Essen, nein, Trinken, nein, Nippen oder Naschen.
    Ich habe vorhin das altmodische und affektierte Wörtchen »schlückern« gebraucht, wahrscheinlich, um damit mein Mißtrauen auszudrücken, daß die dargereichten Säftchen, die man beinahe nur tropfenweise schluckte, ihren Mann ernähren könnten, und sei er auch nur ein staatlicher Revenant wie ich. Bald jedoch sollte ich eines besseren belehrt werden. – Alles Essen, das wir zu uns nehmen, hat eine zweifache Bedeutung. Es führt erstens unserm Geschmackssinn ein Erlebnis

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