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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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zu, und es befriedigt zweitens das Verlangen des Körpers nach Kalorien. Das Geschmackserlebnis hat es nur mit der
Substanz
einer Speise zu tun, die Befriedigung des Verlangens nur mit der
Materie
derselben Speise. Es besteht ein unzweifelhafter philosophischer Unterschied zwischen Substanz und Materie, denn die Materie ist nichts als Materie, die Substanz aber ist gestaltete Materie, Materie zur Potenz einer Wesensidee erhoben. Um ein Beispiel anzuführen: das Wasser ist Materie, das Meer ist Substanz. Einst, – ich spreche von der Zeit vor meinem längst verschollenen Tode – einst übertraf die bei uns bei Tisch servierte Materie bei weitem die Substanz, das heißt, man mußte eine ganze Menge Fleisch essen, um das Geschmackserlebnis eines gebratenen Rehrückens durchgenießen zu können. Dieses Verhältnis hatte sich in der abgelaufenen Zeit aufs wundersamste umgekehrt. Es wurde uns hier ein Maximum von Substanz in einem Minimum von Materie serviert. Und weil bereits vom Meere die Rede ging, so muß ich es verkünden, daß der zweite Gang, jenes ziegelrote Süppchen im dicken Kristall, das Meer an sich war. Wohl richtig, auch zu meiner Zeit hatte ich vom Meere, von der Wesensidee des Meeres so manchen Bissen und Schluck verkostet. Was sind schließlich ein Dutzend Whitestable Austern, mit dem richtigen Chablis dazu, anderes als die Substanz »Meer«? Enger noch, die Wesensidee »Nordsee«? Und das Scherenfleisch eines Helgoländer Hummers mit seiner impertinent äquivoken Süßigkeit, die sich erst im Nachgeschmack ganz preisgibt? Und die billigen Portugueses, Oursins, Violettes, die man an den Straßenecken aller südfranzösischen Häfen den ganzen lieben Tag lang feilbietet? Sind sie mit ihrem Algen- und Tangduft nicht das personifizierte Mittelmeer, diese ordinären Portugueses? Und eine Bisque d’Hommard bei Prunier in Paris? Und eine Bouillabaisse in einem Fischerdorf zwischen Marseille und Toulon? Und eine Grancevola, eine Meerspinne, in einer venezianischen Taverne, mit ein wenig Essig und Öl und Pfeffer verabfolgt? Sie ist nicht nur Meer und Mittelmeer, sie ist eine noch näher bestimmte Substanz, die Adria. – Und doch, in den wenigen Tropfen des ziegelroten Saftes genoß ich das alles zusammen und auf einmal, und zwar auf eine schwerelose und gar nicht beschreibbare Art. Jeder der sechs Gänge entfaltete sich so zu einer geistigen Einverleibung, zu einer erkennenden Einversinnlichung bedeutsamer Substanzen kraft des Geschmackes. Man nahm ein Schlückchen zu sich, zwei, drei Tropfen. Diese Tropfen vergingen auf der Zunge und verbreiteten ihre Wärme oder Kälte, je nachdem, durch den ganzen Organismus wohlig bis in die Finger- und in die Zehenspitzen. Jetzt wurde es mir auch klar, warum man beim Essen stand, nämlich, um dem Lustbehagen leichtere Möglichkeit zu geben, sich den feinsten und fernsten Nervenenden mitzuteilen. Zugleich aber mit der physischen Lust durchdrangen die angenehmsten Vorstellungs- und Bilderreihen den Geist, so daß ich wie alle andern Teilnehmer allgemach jedem einzelnen Tropfen dieses wahrhaft mentalen Mahls nachhing, nachsann, nachträumte. Zu meiner Zeit hatten allein die Hochmusikalischen mit ähnlicher Einversinnlichung etwa einer Orchesteraufführung von Debussys »La Mer« beigewohnt, mit welcher derzeit ein Diner eingenommen wurde.
    In den Pausen des Essens, so wollte es wahrscheinlich die Sitte, hielten der Wortführer, der Hausweise und der Beständige Gast längliche Reden, die ohne Zweifel an mich gerichtet waren, da ich öfters das Wort »Seigneur« ausnehmen konnte. Ich begriff so gut wie nichts davon. Mein sonderbares geistiges Vermögen, die Sprache dieses Zeitalters schon auf den ersten Anhieb verstehn oder gar sprechen zu können, verebbte natürlich von Zeit zu Zeit, und dann wirrte ich in meinen Antworten Deutsch, Französisch, Englisch und Italienisch durcheinander, und der Schweiß trat mir wiederum auf die Stirn. In solchen Augenblicken begann B. H. sich meiner zu schämen und lugte zeichengebend und einsagend hinter dem abstrakten Kunstwerk hervor. Die andern aber verstanden mich immer oder taten wenigstens so, was ihrer Furcht vor dem Ungemäßen und Unangenehmen zuzuschreiben ist. Freilich hatte dieses Verständnis seine Grenzen, wie es sich bald herausstellen wird.
    In einer Pause nach dem dritten Gang wandte ich mich, nur um verlegene Konversation zu machen, an Io-Rasa, die schöne Brautmutter zu meiner linken Hand:
    »Man speist in diesem

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