Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
Vom Netzwerk:
die Gelegenheit, seine oft erprobte moralische Entrüstung neu anzuwenden:
    »Sie sind kein frommer Mann, Seigneur. Sie sind ein Nihilist. Ich aber diene in meinem Werk, das Tag und Nacht nicht kennt, der unsterblichen Seele. Individuen sind keine Typen. Individuen sind einmalige und unwiederholbare Schöpfungen. Es sind Unikate, mein Herr. Dafür liefert der Wintergarten den unabstreitbaren Beweis, denn unter den zehntausenden Fällen, die ich rückentwickelt habe, gab es keine einzige Wiederholung. Und selbst diese Unglücklichen hier bekommen die Chance, das Häßliche aus ihrem Bewußtsein auszustoßen, ehe sie ins Schweigen eingehen.«
    Ich fühlte mich tief getroffen durch die Worte des Animators, so daß ich meine Augen schloß und meinen Kopf senkte vor seelischem Elend, das mich erfüllte. Er hatte mich einen »Nihilisten« gescholten. Nun war doch mein ganzes Leben, seitdem ich denken konnte, ein Kampf gegen den Nihilismus, den ich als Kind des neunzehnten Jahrhunderts in mir trug. Hatte ich ihn nicht längst schon überwunden? Oder war meine Seele noch immer voll Irrtums? Der Teufel selbst mußte kommen, um mir zu beweisen, daß ich ein Ketzer sei. Mein Glaube an die Unzerstörbarkeit des Wesens war nicht rein. Ich hatte Typus und Individuum durcheinander gemischt. Gewiß war es mir vorbehalten, ein Rübenmännchen zu werden wie der Wortführer. Oh Gott, hilf mir, daß ich dich nicht mehr lästern muß. Ich hielt mich fest an die Hand meines armen Freundes angeklammert, als das Zetergeschrei hinter uns immer schwächer wurde und wir wiederum ein Trottoir roulant unter den Füßen spürten, ein rumpelndes und polterndes diesmal, das ohne Zweifel nur für das Dienstpersonal bestimmt war.
    Mein Herz und meine Hand werden mir immer schwerer, da ich nun beschreiben soll, was wir in dem langen, langen Abzugsgraben sahen, auf dessen hohem Damm wir entlangrollten. Ich hadere mit meinem Schicksal, das mich ins Elfte Weltengroßjahr der Jungfrau versetzt hatte, mich einen Blick tun ließ ins Kleine Intermundium, mich in den Wintergarten führte, wo der Mensch das Elend des Sterbens überwunden zu haben wähnte und das mir doch nicht erlaubte, einen frohen Kranz heimzubringen, gewunden aus purer Schönheit und leuchtender Hoffnung. Wäre die Menschheit meines, d.i. des zwanzigsten Jahrhunderts nicht bedürftiger der Schönheit und Hoffnung als der trüben Wahrheit, daß alles Irdische immer wieder in Katastrophen endet und immer wieder neu aufgebaut werden muß? An dieser Wahrheit litten wir ja gerade durch eigene Erfahrung. Wahrscheinlich hatte man in mir den falschen Berichterstatter ausgesandt. Wie sehr mich dieser Zweifel auch quält, es hilft nichts, ich bin ich und kein anderer, ich muß verkünden, was meine Augen sahen, meine Ohren hörten und mein Geist begriff.
    Ich will nicht behaupten, daß die Kataboliten einen schlimmeren oder auch nur einen halb so schlimmen Anblick boten wie das, was so mancher meiner Zeitgenossen in den Greuellagern von Buchenwald oder Maidanek bezeugt hat. Dieser Vergleich (der schreiend falsch ist) bezieht sich nur auf ganz äußerliche Ähnlichkeiten, denn die Kataboliten waren durchaus keine Mord- und Folteropfer, sondern, wie die Rübenmännchen ihrerseits, nichts als mißlungene Rückentwicklungen, die auf der Strecke liegengeblieben waren. Ich kann nicht einmal sagen, wie hoch der Prozentsatz dieser Fehlprozesse zählte und ob er groß genug war, einen wirklichen Einwand gegen die Idee des Wintergartens zu bilden. Die subjektive Seite dieser Idee, die Verwandlung des Sterbens in ein wonnevolles Erlebnis, wurde davon vermutlich kaum betroffen.
    »Die Risken liegen im einzelnen Individuum.« Diese Worte des Animators waren mir plötzlich atembeklemmend verständlich. Nicht von äußeren Umständen, nicht vom retrogenetischen Humus und nicht von der Betreuung durch die Badediener hing es ab, ob die Rückentwicklung glatt verlief, sondern vom Kandidaten selbst, der sich freiwillig ins Wiegengrab legte. Die astromentale Menschheit hatte nicht nur das unwillkürliche und unkontrollierte Sterben der Vorzeit durch einen kontrollierten Prozeß ersetzt, sondern auch die Krankheiten abgeschafft, die einst zu jenem Sterben geführt hatten. Die Sterbenskrankheiten aber, wie wir Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts sie alle noch kannten, das heißt kennen und an uns selbst erleben, sind in sehr vielen Fällen nicht unverschuldet, zumal bei Individuen, die ein reifes Alter erreichen. Sie

Weitere Kostenlose Bücher