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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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»danteske Höllenstrafen über Leute zu verhängen, die sich ihm gläubig anvertrauen?«
    »Das ist die Frage eines Laien«, versetzte der Animator hinter uns, und er lispelte nicht mehr, noch gefiel er sich in anderen Manieriertheiten wie früher, sondern er fuhr halblaut fort: »Und deshalb ist auch der Anblick der Kataboliten den Laien verboten, weil sie das Geschaute weder verstehen noch richtig einschätzen können, sondern sich nur selbst schädigen damit. Im Wintergarten gibt’s keinerlei Höllenstrafen. Ganz im Gegenteil. Durch die niedrigen oder einseitigen Formen, die der rückentwickelte Körper anzunehmen gezwungen ist, wenn die psychischen Gebrechen der Persönlichkeit den glatten Ablauf stören, wird die Seele von diesen Gebrechen noch während ihrer Lebenszeit entlastet. Es ist besser für die Seele, ihre Krankheit bricht noch im Körper aus, als sie muß die Krankheit mit hinüberschleppen …«
    »Sprechen wir nicht vom Drüben«, fuhr ich ihm ins Wort. »Das Gräßliche, was ich sehe, leidet hier …«
    »Wieder das falsche Denken des Laien. Wer leidet? Die Axolotln leiden nicht noch auch die Schweinchen und Fische. Sie haben das Bewußtsein und die Nerven von sehr müden Ferkeln, Lachsen und Molchen. Auch die hypertrophen Gliedmaßen leiden nicht, denn sie haben überhaupt kein Bewußtsein, sondern nur einen gewissen Bewegungsdrang. Nicht einmal die Rübenmännchen, die noch gerettet werden können, leiden wirklich. Sie sind ausgesprochene Simulanten, und die Koprolalie bereitet ihnen Vergnügen. Und außerdem ist alles bald vorüber, wenn das Wasser kommt und die Kataboliten ins Mnemodrom trägt …«
    »Mnemodrom? Heißt der See vor unsern Augen Mnemodrom?«
    »Er heißt so, obwohl er ein See des Vergessens ist.«
    »Eine Art Lethe also? Hörst du, B. H.?«
    »Wir nennen ihn Mnemodrom. Und nur wenige Fremde bekommen ihn zu Gesicht. Und meist nur wirklich Leidende …«
    »Wirklich Leidende? Zum Beispiel?«
    »Zum Beispiel, Sie, Seigneur, und ich …«
    »Besteht das Mnemodrom aus einer Lauge, in der sich organische Körper auflösen?«
    »Wo denken Sie hin? Das Mnemodrom besteht aus leichtem Wasser.«
    »Was ist das wieder für eine Sache, dieses ›leichte Wasser‹?«
    »Es ist das berühmte Wasser, das nicht naß macht. Haben Sie nie von ›chemisch schwerem Wasser‹ gehört?«
    »Warten Sie! Ich erinnere mich dunkel, daß ich einmal im Wartezimmer eines Zahnarztes einen populären Artikel über ›Schweres Wasser‹ gelesen habe. Kann aber ebensogut ›Flüssige Luft‹ gewesen sein …«
    »Nun, das genaue Gegenteil davon ist ›Leichtes Wasser‹ …«
    »Soll man sich etwa darunter das Taufwasser des astromentalen Menschen vorstellen, das ihm Vergessenheit bringt? Gar nichts Neues. Immer wieder stolpert man über mythologische Realitäten.«
    »Das ist falsch. Das leichte Wasser zerstört nichts. Es ist ein ziehendes Element. Es zieht den Bilderschwarm, die Gespensterhorden aus unserem Bewußtsein. Es macht uns leer und rein und bereit …«
    »Was heißt das? Leer und rein und bereit. Solchen Worten mißtraue ich inbrünstig …«
    Der Animator verfiel für einen Augenblick wieder in seinen schwärmerischen Ton: »Oh, Seigneur, das Leichte Wasser schenkt Ihnen die äußerste aller vorhandenen Wonnen …«
    Der Damm, auf dem wir dahinfuhren, hatte den Katabolitengraben beiseit gelassen. Er war schmäler geworden und auch das Trottoir roulant holpriger und dem Anschein nach morscher. Rechts und links von uns wuchsen, ähnlich wie an den Ufern des Toten Meeres, salzbestaubte Riesendisteln und hohes Gesträuch. Mir fielen da und dort Grabscheite auf, die im Sand staken, ein Beweis, daß hier Erdarbeiten irgendwelcher Art notwendig waren. Wir schwiegen alle. (Der Animator hatte die Badediener nicht einmal zum Schollenacker der Rübenmännchen mitgenommen.) B. H. hielt den Kopf tief auf die Brust gesenkt. Vielleicht konnte er nicht mehr sprechen. Ich hielt ihn fest. Wir fuhren einer unabsehbaren Gefahr entgegen. Dieses überklare Bewußtsein (Kopfdruck, Kopfdruck) gab nicht nur meinem Geiste, sondern auch meinem gequälten Körper unerwartete Kräfte. Ich überlegte: Sollte ich vom laufenden Band abspringen und meinen Freund mit mir reißen? Es hätte nichts geholfen. Nach einem kurzen Lauf wären wir wieder in der Macht des Animators gewesen. Inzwischen war der Damm zu einer alten, schmutzigen Holzbrücke geworden. Diese Brücke lief weit in den See hinaus. Die Fahrt hielt. Ich

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