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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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zusammenband. Ich brauchte nur wenige Sekunden zu diesem Werk. Dann stand ich auf, versteckte den großen Garnknäuel wieder und ließ ihn, während wir langsam uns dahintrollten, sich hinter mir als roten Faden abspulen. Der Animator hatte nichts bemerkt. Ich zeigte mich überaus beschäftigt mit meinem Freunde B. H., der meines Zuspruchs und der Ermutigung auch höchst bedürftig war, denn er konnte kaum mehr gehen und bat mich:
    »Laß mich liegen … Es ist doch recht angenehm …«
    »Ich laß dich nicht liegen«, puffte ich ihn in die Seite, »und es ist sehr, sehr unangenehm …«
    »Findest du’s wirklich so unangenehm?« lallte er, »ich glaub dir’s nicht, lauter Ehrgeiz …«
    »Auch du findest es unangenehm, sehr unangenehm, B. H.«, flüsterte ich suggestiv. »Auch du willst lieber ehrlich sterben als rückentwickelt werden. Das ist noch lange kein Ehrgeiz! Hätte ich ein scharfes Messer und etwas Verbandzeug bei mir, würde ich dich zur Ader lassen. So aber mußt du mir glauben und vertrauen …« »Jetzt sind sie alle schon kleine Kinderchen«, stammelte B. H. mit Tränen in den Augen, »meine Freunde Io-Fagòr und Io-Rasa und die Ahnfrau und die ehrenwerten Junggesellen unseres Haushalts, und nur ich muß noch immer erwachsen sein …«
    »Du wirst erwachsen bleiben, darauf gebe ich dir mein Wort, B. H. …. Los! Nimm dich zusammen!«
    »Aber ich möchte auch ein kleines Kindchen werden wie die andern. Es ist doch wunder-wundervoll, wieder ein kleines Kindchen zu werden. Du verstehst unsere Kultur nicht, F. W., du bist noch zu motorisch …«
    »Danke Gott, B. H., daß ich motorisch bin …«
    »Die Herren haben Schwierigkeiten miteinander«, drehte sich der Animator uns zu, wobei er jedoch nur ein Achtel seines Profils zeigte, »einer von den Herren möchte wahrscheinlich ruhen? Goldene Ruhe, süße Ruhe, sorglose Ruhe, Spiel der Spiele, Beschäftigtsein ohne Regung … Wir müssen uns leider noch ein bißchen Bewegung machen, mit Schritt und Tritt, frierend in Regen und Kälte, ehe wir das Dach erreichen …«
    Dieser zähneklappernd heuchlerische Singsang des Animators verriet ihn. Er fühlte sich nah seinem Ziele, und deshalb suchte er den Weg zu verlängern, um B. H.’s letzte Kraft zu brechen und meinen Widerstand zu zermürben. Die eigene Hinterlist genießend, stellte ich mich nun auch zu Tode erschöpft, obwohl ich mich in diesem Augenblicke stärker und willensfreier fühlte als die ganze Zeit vorher:
    »Voraus, Maître, gehen Sie nur voraus«, bat ich im Konsonanten verschleifenden Tone eines Schwerbeschwipsten, »wir kommen schon nach … Schön langsam kommen wir nach … Geheimes zu reden haben wir, mein Freund und ich … Dis-kreti-on, wenn ich bitten darf …«
    »Diskretion, wem Diskretion gebührt«, lächelte der Animator in seiner falschen, leicht angefaulten Phraseologie, »ich bin der letzte, der Sie stört oder antreibt …«
    Nun packte ich B. H. bei seinen Handgelenken und schüttelte ihn mit aller Kraft. Das half. Er schien aus seinem Jammer erwachen zu wollen: »Siehst du nicht, daß ich kämpfe«, flüsterte ich. »Hilf mir doch! Mach mir’s wenigstens nicht schwerer!«
    Der Abstand zwischen unsern Wächtern und uns hatte sich vergrößert. Diese hatten einer Warnungstafel keine Beachtung geschenkt, die einen kleinen Seitenpfad bewachte, der von dem Grenzweg weg wiederum querfeldein in die Margueriten führte, die hier besonders hoch wuchsen. Der Animator schien unser ganz sicher zu sein, weil er streng auf Diskretion hielt und sich nicht umdrehte. Ich sprach immer lauter auf B. H. ein. Zuletzt sang ich sogar:
    Immer nur langsam voran,
    Daß der Schönauer Landsturm
    nachfolgen kann.
    Auf der Warnungstafel stand in extenso folgendes geschrieben: »Diesen verbotenen Weg zu betreten ist nur den diensttuenden Animatoren gestattet!« Ich weiß nicht, was es war, das mich zu dem jähen und gar nicht wohlüberlegten Beschluß kommen ließ, gerade hier unsern voranschlapfenden Wächtern einen Haken zu schlagen. Zum Teil war es zweifellos die Hoffnung, unter den hohen Blütenköpfen der Toten, die uns hier bis an die Brust, ja manchmal bis ans Kinn gingen, ein Versteck zu finden. Da nur der Animator allein den verbotenen Weg betreten durfte, wurden wir zugleich auch die Badediener los. Doch mehr als alle logischen Gründe, wie genau erinnere ich mich dessen, wirkte auf mich die mächtige Lockung, einen verbotenen Weg im Wintergarten zu gehen und am

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