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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Ziele dieses Weges vermutlich das Verbotenste des Verbotenen zu erblicken. Ich preßte den Finger auf den Mund, um B. H. Schweigen zu befehlen. Dann zog ich ihn kräftig mit der Hand hinter mir her, und wir begannen beide zu laufen. Der rote Faden, aus meiner Hosentasche sich abspulend, lief noch ein langes, langes Stück mit uns. Als nurmehr ein Rest des Ballens übrig war, warf ich ihn in die Margueriten. Wir konnten unsere Verfolger ebensowenig mehr sehen wie sie uns. Anstatt aber haltzumachen und uns wegabseits in die Margueriten zu legen, liefen wir wie die Tollen weiter und weiter. Nach einer Weile begann sich die Fläche etwas zu senken. Es war mir, als hörte ich nicht weit von hier das Stimmengewirre eines Streits. Es hätte ganz gut eine Wirtshausprügelei sein können, irgendwo in weiter Ferne, oder sogar der Marktlärm einer verborgenen orientalischen Stadt. Doch das galt nur für die erste Minute, denn danach entschleierten sich distinkte Menschenstimmen. Irgend etwas aber schien mit diesen Menschenstimmen nicht in Ordnung zu sein. Obwohl sie zweifellos heiseren, erwachsenen Männerkehlen angehörten, so schrillten sie doch im höchsten Diskant und waren, wie soll ich’s nur ausdrücken, es waren zwerghafte Stimmen.
    Wir überquerten zuletzt eine Stelle von abgewelkten Margueriten. Obwohl diese Totenreste doch völlig bedeutungslos waren, boten sie einen unsagbar traurigen Anblick. Dann standen wir … Und ich bin wieder in Verlegenheit zu sagen, wovor wir standen. Es war eine Art umgepflügter Rübenacker, der sich vor unsern Augen weit und breit dehnte, sehr weit und sehr breit.
    Und aus diesem Acker stieg, zugleich mit einem in den Furchen kriechenden Nebel, jenes streitbare Gewirre menschlicher Stimmen auf.
    Die meisten meiner ehemaligen Zeitgenossen, zu denen ich aus der prekären Situation im Wintergarten heimkehren durften, kennen vermutlich die komischen Karikaturfilme von Donald, dem kämpferischen Enterich, und haben sein aufbegehrendes Zorngeschnatter im Ohr, worin Tierlaut und Menschenlaut grotesk gemischt ist. Man denke sich nun dieses krächzende, pfeifende, immer übersteigerte Zorngeschnatter verkleinert, gewissermaßen herabgeschraubt, zugleich aber mit fünftausend multipliziert, und dann wird man eine Vorstellung von dem haben, was wir zu hören bekamen, lange ehe wir noch etwas sahen.
    Dieses leise und doch scharfe, schwächliche und doch schrillkreischende Aufbegehren menschlicher Wut, das von dem weiten Rübenacker aufstieg, ließ mich alles vergessen. Ich dachte nicht mehr an die Gefahr, in der ich mich selbst befand, wenigstens so lange nicht, bis ich das Phänomen erforscht hatte, was gewiß zwei ganze Minuten in Anspruch nahm. Ich mußte, aufrichtig gesprochen, mich erst hinknien, um zu erkennen, daß ich wirklich eine Art Rübenfeld vor Augen hatte, obwohl dieses Wort nur ein hinkender Vergleich ist. Die Vorstellung »Rübenacker« bildete sich daher, daß die bewußten Phänomena in ziemlich weiten und regelmäßigen Abständen und Reihen eingepflanzt waren, und zwar in sauber gehäufelten Erdbrüstchen aus retrogenetischem Humus. Aus diesen Erdbrüstchen sproß langes undeutliches Blätterzeug, in welchem die eigentlichen Rüben steckten. Es waren sehr ausgewachsene Rüben, die nicht nur unter der Erde wucherten, wie es sich gehört hätte, sondern größtenteils über der Erde in ihrem Blätterschutz. Man mußte erst eine ganze Weile lang scharf hinschauen, um zu erkennen, daß die umgrünten, zornschnatternden Rüben wilde, greise Männchen waren, die sich aus ihrer Verwurzelung in der Scholle loszureißen trachteten. Ihre Länge betrug ungefähr zwanzig oder fünfundzwanzig Zentimeter. Sie ruderten wie verrückt mit ihren freien Armen und drehten ihren Körper im Veitstanz hin und her. Der obere Teil des Körpers war kräftig und entwickelt, der untere Teil sehr wenig differenziert. Die Gesichtchen hingegen waren wie bei Tanagrafiguren voll ausgebildet, ur-uralt, zerrissen von Runzeln und Falten. Aus den kahlen Kopfplatten wuchsen dem und jenem grüne Halme. Allen aber sprossen zausigweiße dünne Kinnbärtchen. Die Äuglein funkelten von rasendem Haß, und aus den schwarzen, abscheulichen Mündern, die sie weit aufsperrten, schnatterten ringsum die unflätigsten Worte, die ich jemals auf einem Fleck und in kurzer Zeit vernommen hatte: »Fettarsch, Scheißsack, Giftfurz, Fickdieurgroßmutter«, das war noch das Gelindeste, was ich dem Entrichgeschnatter entnahm.
    »Was

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