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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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träumen lassen. Eine Welt ohne rote Fahnen, ohne marschierende Massen, ohne schwitzende Turner, ohne heisergekrächzte Redner, ohne dickbebrillte Atheisten, Panökonomisten, Materialisten, Positivisten, Pragmatisten, Maschinen- und Wissenschaftsanbeter, eine Welt ohne wedelnde Intellektuelle, die noch dümmer sind, als sie sich stellen und, aus der echten Überzeugung ihres Neides heraus, par ordre de Mufti sich auch noch dümmer stellen, als sie sind. Hingegen eine Welt der feudalsten Vereinzelung – lebte doch jede Familie gewissermaßen in ihrer Burg –, eine Welt des Noli me tangere, eine Welt der strengen Distanz, des Edelmaßes, der Gepflegtheit, eine Welt, die zartfühlend und im Alltagston sogar mit prähistorischen Gespenstern umging, wie ich bestätigen konnte.
    Und dennoch war und blieb mein Eindruck von Fiancé Io-Do: Jeunesse dorée. Der junge Mann hatte denselben feingliedrigen Körper wie alle andern Zeitgenossen, und doch schien er mir auf eine gewisse Weise aufgeblasen zu sein. Sein Mund war ein ganz klein wenig nach abwärts gebogen, und der Übergang von den Wangen zum Hals nicht scharf genug.
    »Seigneur ist zu dir gekommen, Sohn«, begrüßte ihn der liebe Herr Io-Solip, sein Vater.
    »Ich habe Seigneur schon lange erwartet«, erwiderte Bräutigam Io-Do.
    Wenn ich mich trotz meiner etwas anzweifelbaren Existenz mitzähle, so befanden sich in Io-Dos geräumigem Ruhegemach jetzt fünf Männer. Wer der fünfte war, das werde ich sofort verraten. Es herrschte verlegenes Schweigen. Ich sah mich nach irgendeinem Sitzplatz um und wartete darauf, daß Bräutigam Io-Do oder der liebe Herr Io-Solip mich bitten werde, Platz zu nehmen. Ob ich nun in meinen grob materiellen oder nur in meinen Astralleib eingekleidet war, gleichviel, ich fühlte mich sehr müde. Meine Glieder im schäbigen Abendanzug waren wie zerschlagen. Niemand aber bat mich, Platz zu nehmen und die mühsam aufrechte Stellung mit der angenehm zusammengeklappten des Sitzens zu vertauschen. B. H. hatte mich, wie über so vieles andre, auch darüber unbelehrt gelassen, daß man im gegenwärtigen Zeitalter nur in seltenen Fällen
saß,
d.h. das Vollgewicht des Körpers auf dem bequem gestützten Hintern ruhen ließ. Das Sitzen wirkte auf meine neu akquirierten Zeitgenossen etwa so, wie auf uns (ich verstehe unter »uns« meine Leser und mich selbst nach meiner Wiederkehr) das Hocken von Südseeinsulanern gewirkt hätte, als eine tierhafte und beinahe unanständige Körperhaltung. Man setzte sich heutzutage nur bei ganz bestimmten Gelegenheiten hin. Die Grundstellungen des gegenwärtigen Zeitalters hießen Stehen und Liegen. Würdig des Menschen war allein die ungebrochene Linie, sei es vertikal, sei es horizontal. Wir, in unserm Uraltertum, waren noch zu nahe dem heiligen Akt der Aufrichtung gewesen, der den Menschen zum lotrechten Bipeden gemacht hatte, um uns nicht dann und wann von der ungebrochenen Linie in der gebrochenen (sitzend) ausruhen zu müssen. Ich begehrte in diesem Augenblicke ganz ungemein nach der gebrochenen Linie. Nichts aber half mir, denn ich konnte mich ja nicht gut auf das Ruhelager des Bräutigams sinken lassen.
    Was den fünften Mann in unsrer Mitte anbetrifft, so war er ein Mutarianer. Der Mann war übrigens ein Männchen, klein und zart, das weder einen silbernen noch einen goldenen Kopfaufsatz trug, sondern den glattpolierten Schädel in aufrichtigster Entblößung zeigte. Auch ging er weder häuslich nackt noch in Schleierstoffe gehüllt wie alle andern Leute hier, sondern steckte in etwas Braunem und Rauhem, das wir ohne weiteres als Kutte oder Habit würden bezeichnen können, hätten der geknotete Gürtelstrick und die Kapuze nicht gefehlt. Ich verbeugte mich tief vor dem Männchen, das mir dieser Kutte wegen einer geistlichen Person zumindest ähnlich zu sein schien, und ich hatte in gewissem Sinne recht geraten. Das Männchen starrte mich aus großen, merkwürdig hellen Augen an, in denen mein Bild nicht haftete.
    »Es ist ein Mutarianer«, erklärte B. H. laut, als wäre derjenige, von welchem seine Erklärung handelte, nicht mit uns im Raume anwesend:
    »Die Mutarianer sind mehr als ein Orden oder eine Brüderschaft, wie du sie zu deiner Zeit früher einmal gekannt haben magst. Sie haben die drei Urgelübde der Keuschheit, der Armut und des Gehorsams vermehrt um die drei biologischen Gelübde der Blindheit, der Taubheit, der Stummheit, das heißt, sie sind im wirklichen Sinne und nicht nur im

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